Im Mai 1948 trat Leonard Bernstein in jüdischen DP-Lagern auf
Es waren denkwürdige Tage in diesem Frühjahr des Jahres 1948. Am 8. Mai feierten die Juden in den Displaced Persons (DP) Camps den dritten Jahrestag ihrer Befreiung, am 14. Mai sollte endlich der langersehnte jüdische Staat in Palästina Wirklichkeit werden und zwischen diesen bedeutsamen Terminen besuchte Leonard Bernstein die Überlebenden der Shoa. Nur vier Tage, bevor Ben Gurion in Tel Aviv den Staat Israel proklamierte, dirigierte der weltberühmte jüdische Kapellmeister und Komponist das „Reprezentanc Orkester fun der Szeerit Hapleitah“ vor Tausenden von begeisterten Musikliebhabern in den „Wartesälen“ von Feldafing und Landsberg.
Die US-Militärregierung hatte Leonard Bernstein ins besetzte Deutschland eingeladen. Er sollte hauptsächlich vor deutschem Publikum auftreten – Gastspiele in den jüdischen DP-Camps waren eigentlich nicht geplant. Bernstein sah gleichwohl die Möglichkeit, über diesen Umweg dennoch ein Konzert für und mit den Shoa-Überlebenden auf den Weg zu bringen – mit Unterstützung der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation JOINT. Doch die „einzige Möglichkeit dorthin zu gelangen“, so erinnerte sich Bernstein rückblickend, war, „in München ein Konzert des Staatsopernorchesters zu dirigieren“.
Diese Entscheidung scheint für ihn jedoch nicht einfach gewesen zu sein: „Der Nazismus war überall zu spüren“, schrieb Bernstein in einem Brief an seine Klavierlehrerin und Freundin Helen Coates. Auch die deutschen Musiker hatten große Vorbehalte gegen den jüdischen Dirigenten aus den USA. „Sie wollten nicht einmal von ihren Notenpulten zu mir aufschauen.“ Doch binnen kürzester Zeit hat der junge Stardirigent alle in seinen Bann geschlagen – die Orchestermitglieder lagen ihm zu Füßen: „Vermutlich waren die verängstigten und verunsicherten Musiker doch neugierig auf das, was Amerika an Freiheit und Lebensqualität zu bieten hatte“, zitiert Michael Horowitz in seiner kürzlich erschienen Bernstein-Biografie den Stardirigenten. Die deutschen Feuilletonisten feierten den jungen Amerikaner als „Hexenmeister von dämonischer Begabung“, der das Orchester „zur Hergabe des Letzten an Klangschönheit und elastischer Subtilität des Vortrages zwingt“. Mit diesem Konzert vom 9. Mai 1948 begann die vielbeachtete Tournee des in Europa damals noch kaum bekannten Ausnahmedirigenten, die ihn noch nach Paris, Budapest, Wien und Mailand führen sollte.
Gleichwohl fanden Bernsteins wichtigste und ergreifendste Auftritte einen Tag später, am 10. Mai 1948, in den „Wartesälen“ von Feldafing und Landsberg statt – als Gastdirigent mit dem „Reprezentanc Orkester fun der Szeerit Hapleitah“. Überlebende des „Kovnoer-Ghetto-Orchesters“ (Litauen) und andere jüdische Ex-Häftlinge hatten im bayerischen Benediktinerkloster St. Ottilien, das ab April 1945 als DP-Krankenhaus diente, dieses erste jüdische Nachkriegsensemble gegründet. Von den einstmals 45 litauischen Orchestermitgliedern lebten nur noch neun. Dennoch gelang es den Musikern, unter der Leitung ihres Dirigenten Michael Hofmekler, zur bekanntesten jüdischen Musikgruppe in der Nachkriegszeit aufzusteigen. In zahlreichen Gastspielen in nahezu allen DP-Camps erwärmte das Orchester mit seinen jiddischen und hebräischen Stücken die Herzen der an Leib und Seele verletzten Leidensgenossen.
Die Musiker traten in der Regel in gestreiften KZ-Uniformen mit aufgenähtem gelben Stern und der Häftlingsnummer an der Jacke auf. Als Kontrast dazu waren auf der Bühne ein Transparent mit der hebräischen Aufschrift „Am Israel Chaj“ (Das Volk Israel lebt) und ein großer Schriftzug mit dem Wort „Zion“ angebracht. Palmen aus Pappmaché rahmten die Szenerie. Mit dieser Dekoration wollten die Musiker ihre Absicht auf eine baldige Übersiedlung nach Erez Israel unterstreichen. Denn der jüdische Staat stellte für sie die einzige wirkliche Hoffnung dar in einer Welt, die sie als Hölle erfahren hatten.
Auf dem Programm in Landsberg und Feldafing standen Stücke von Bizet, Verdi, Puccini und mit Carl Maria von Weber auch von einem deutschen Komponisten. Neben der Orchesterleitung übernahm Bernstein die Klavierbegleitung, beispielsweise bei der Rhapsody in Blue von George Gershwin. „Er spielte einfach wunderbar, auf diesem schrecklich verstimmten Piano“, berichtete Harry Bialor, der als Jugendlicher im Camp Feldafing das Konzert hörte, gegenüber der New York Times. Zudem war es in der Halle brütend heiß: „Es gab natürlich keine Air-Condition und Bernstein sagte auf Jiddisch: ,Nu, dann werden wir gemeinsam schwitzen‘.“
Große Begeisterung lösten die beiden hebräischen Lieder aus Erez Israel aus. Denn viele Konzertbesucher träumten schon seit Jahren davon, endlich Alija zu machen. Als Bernstein erwähnte, dass er plane, auch bald nach Israel zu reisen, bestürmten ihn einige Musiker, sie doch mitzunehmen.
Beide Konzerte hatten bei Leonard Bernstein einen tiefen Eindruck hinterlassen: „Mein Herz hat geweint“, schrieb er an Helen Coates. Als er von seiner Europatournee nach New York zurückgekehrt war, wandte er sich zudem mit einem Dankesbrief an das Büro des JOINTs und versprach „alles in seiner Macht stehende zu tun, talentierte jüdische Künstler aus den Camps zu unterstützen“.
Quellen:
Briefwechsel und Dokumente aus der Library of Congress (Washington D.C.) dem AJDC Archive (New York) und YIVO Institute (New York).