Emanuel Kirschner wurde am 15. Februar 1857 im schlesischen Rokittnitz geboren. Er war das dritte von zehn Kindern von Ahron und Bertha Kirschner. Der Vater war gelernter Bäcker und übernahm ein Kolonialwarengeschäft in dem kleinen Dorf. Die Familie sprach deutsch in der polnischen Umgebung. Emanuel besuchte die jüdische Schule in Beuthen; seine Familie zog nach Karf, einer kleinen Ortschaft im Umland von Beuthen, wo der Vater auch eine Bäckerei eröffnete.
In der Schule wurde Kantor Josef Singer, der den Musikunterricht leitete, auf Emanuel Kirschner aufmerksam. Aber erst nachdem die Familie 1868 nach Beuthen übersiedelte, konnte Kirschner sich dem Synagogenchor unter Leitung von Kantor Singer anschließen. In seinen Erinnerungen berichtet Kirschner von den einfachen Verhältnissen, in denen die Familie lebte und wie die Kinder neben der Schule im Bäckereibetrieb des Vaters helfen mussten. Durch Kantor Josef Singer wurde Kirschner in die kantorale Musik eingeführt und erhielt den ersten Klavierunterricht.
Am Vorabend seiner Bar Mitzwa durfte Kirschner seinen Lehrer im Gottesdienst vertreten. „Dieses gelungene Experiment, das beträchtliches Aufsehen in der Gemeinde erregt hatte, bestärkte mich in der Absicht, dereinst Kantor zu werden“, erinnerte sich Kirschner. Singer konnte auch den Vater überzeugen, dass Emanuels Begabung gegen eine Bäckerlehre sprach. Emanuel konnte weiter Musikunterricht nehmen und im Chor singen.
1874 ging Kirschner nach Berlin und studierte am jüdischen Lehrerseminar, u. a. auch bei Louis Lewandowski. An den Freitagabenden und an Schabbat besuchte er die verschiedenen Synagogen der Stadt, um ihre Kantoren zu hören und von ihnen zu lernen. Nach dem Studium erhielt er eine Anstellung als Lehrer an der jüdischen Gemeindeschule. Nach einem Besuch im Elternhaus versuchte Emanuel Kirschner gemeinsam mit seinen beiden älteren Brüdern, den Umzug der restlichen Familie nach Berlin zu bewerkstelligen. Mutter Bertha verstarb jedoch, bevor die Pläne umgesetzt werden konnten. Die verbliebene Familie zog im Sommer 1880 nach Berlin.
Im Herbst 1879 übernahm Kirschner an zwei Gottesdiensten der Hohen Feiertage die Position des 2. Kantors in der Synagoge Oranienburger Straße, nachdem der amtierende Kantor Joachimsohn krankheitsbedingt aussetzen musste. Kirschner war von dem Vorschlag, den Lewandowski erbracht hatte, überrascht und machte sich sofort an die Vorbereitungen. Die Vertretung habe seine „alte, fast erloschene Liebe fürs Kantorat zu flammender Begeisterung wieder angefacht“. Nach den Feiertagen verstarb der erkrankte Kantor und Kirschner bewarb sich erfolgreich um die Stelle des 2. Kantors. In diesen Jahren nahm er weiteren Gesangsunterricht und seine Stimme entwickelte sich bedeutend weiter.
Kirschners Lebensweg ist nach Kindheit, Jugend in Beuthen und Studienzeit und erster Anstellung in Berlin eng mit München verknüpft. Dort trat er 1881 im Alter von 24 Jahren die Nachfolge von Kantor Max Löwenstamm in der Synagoge an der Westenriederstraße an. Er sollte die Gemeinde 45 Jahre begleiten.
In München angekommen musste er sich „auf schnellstem Wege aus einem norddeutschen in einen süddeutschen Chasan umwandeln“, kein einfaches Unterfangen, da in München nach anderem Ritus gebetet wurde als in Berlin. Die Anerkennung, die er dabei von Beginn an erfuhr, sei ihm „kräftiger und dauernder Antrieb für den unbedingt notwendig aufzunehmenden Kampf gegen die Lückenhaftigkeit meines beruflichen Wissens und Könnens“ gewesen.
Im Sommer 1884 verlobte sich Kirschner mit Ida Bühler, der jüngsten Schwester seiner Wirtin, die er bei einem ihrer Aufenthalte in München kennengelernt hatte, und nur kurze Zeit später heiratete das Paar. 1886 wurde Sohn Max Mosche geboren. Kirschner, der mittlerweile auch als Mohel ausgebildet war, konnte die erste Beschneidung in diesem Amt an seinem Erstgeborenen durchführen. 1889 wurde der zweite Sohn Fritz geboren, 1894 Tochter Bertha, die mit nur vier Jahren an einer Hirnhautentzündung verstarb.
Neben seiner Arbeit in der Gemeinde trat Kirschner als Konzertsänger auf und unterrichtete in der Knabenschule an der Luisenstraße israelitischen Religionsunterricht, sowie Sologesang an der Akademie der Tonkunst.
Im September 1887 zog die Gemeinde in die neue Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße um. Kirschner beschreibt den Umzug in seinen Erinnerungen: „Freitag, 16. September 1887 fand vormittags der feierliche Abschied aus der lieben alten ,Schul‘ statt und in den Nachmittagsstunden des gleichen Tages die pompöse Einweihung der neuen Synagoge unter Teilnahme der gesamten Gemeinde, der Delegationen von Regierung und Stadtmagistrat, der jüdischen Schuljugend, die geschmückt mit blauweißen Schärpen Spalier bildete beim Einzug ins neue Gotteshaus.“
Kirschner schrieb in seiner Zeit als Kantor in München mehr als 100 Kompositionen, die in vier Bänden zwischen 1896 und 1926 publiziert wurden. 1926 ging er in den Ruhestand, begleitete die Gemeinde jedoch bis zur Berufung seines Nachfolgers Moritz Neu noch weitere zwei Jahre.
Den Aufstieg des Nationalsozialismus bezeichnete er als „furchtbares Erwachen der deutschen Juden aus einer verhängnisvollen, etwa 150 Jahre währenden Illusion“. Während er der jüdischen Jugend leidenschaftliche, kämpferische Energie wünschte, um die „uralte Heimat“ wiederaufzubauen, war ihm bewusst: „Wir Alten aber, die wir bereits am Rande des Grabes stehen, wir werden wohl den Leidenskelch des bittersten golus be‘erez ojweni, im Lande unserer Feinde, bis zur Neige leeren müssen.“
Die Münchner Hauptsynagoge wurde in der Nacht vom 9. November nicht in Brand gesetzt und abgerissen. Sie war schon früher von den Nationalsozialisten zerstört worden. Am 8. Juni 1938 hatte die Gemeinde den Bescheid erhalten, dass die Synagoge am folgenden Tag abgerissen wird. In einem eilig zusammengestellten Abschiedsgottesdienst sang auch Emanuel Kirschner. Er sang, wie eine Zeitung schrieb, „mit seiner 80-jährigen Stimme, die immer noch den Abglanz ihrer baritonalen Schönheit und Wärme bewahrt hatte“. Er selbst schrieb: „Angesichts des jahrelangen Rastens meiner Stimme, angesichts der mich fassungslos machenden Erschütterung hätte ein Wunder geschehen müssen, um eine die Gemeinde und mich befriedigende Leistung durchführen zu können. Und dieses Wunder geschah!“
Der Abbruch der Synagoge machte Kirschner auch heimatlos, denn bisher hatte die Familie im angrenzenden Jüdischen Gemeindehaus gelebt, das ebenfalls abgerissen wurde. Das Ehepaar musste in das jüdische Altenheim in der Kaulbachstraße umziehen. Emanuel Kirschner starb dort nur wenig später, am 28. September 1938. Ida Kirschner starb 1942 im Altenheim, kurz vor der Deportation. Sohn Max überlebte und emigrierte später in die USA. Fritz konnte mit seiner Familie nach Palästina auswandern und verstarb 1944 nach schwerer Krankheit.
Max Kirschner schrieb im Nachwort der Erinnerungen seines Vaters: „Vater und sein Schaffen aber leben weiter, selbst hier in Amerika; in vielen Gemeinden werden seine Gesänge gesungen, mancher seiner Schüler setzt seine Ehre darein, sein Werk lebendig zu erhalten. Und so erfüllt sich sein Wunsch in seinem letzten Willen: ‚Möge die Erinnerung an mein Leben und Wirken mit meinem Heimgang nicht erlöschen‘.“
Quellen:
Emanuel Kirschner, Erinnerungen aus meinem Leben, Streben und Wirken. Typoskript, München 1933.
https://digipres.cjh.org/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=IE5259758
Jacob Hohenemser, An Evaluation of the Life and Works of Emanuel Kirschner,
https://geoffreyshisler.com/biographies-2/emanuel-kirschner/ [07.12.2023].
Claus Bockmaier, Tina Frühauf (Hg.), Jüdische Musik im süddeutschen Raum / Mapping Jewish Music of Southern Germany, Musikwissenschaftliche Schriften der Hochschule für Musik und Theater München 16, München 2021.