„Auf Einladung der Mitarbeiter des Nürnberg Kriegstribunals, hat das ,Jüdische Orchester St. Ottilien‘ am 7. Mai 1946 ein Konzert im Nürnberger Opernhaus gegeben, dort wo Hitler seinerzeit seine berüchtigten Gesetze bekannt gegeben hat“, berichtete die jiddische DP-Zeitung „Undzer Wort“ in ihrer Ausgabe vom 17. Mai 1946 über dieses außergewöhnliche Kultur-Ereignis in der ehemaligen Stadt der „Reichsparteitage“. Dass dem Journalisten dabei ein kleiner Fehler unterlaufen ist, sei ihm verziehen. Die „Nürnberger Gesetze“ wurden im September 1945 bei einer Sondersitzung des „Reichstages“ im Großen Saal des Nürnberger Kulturvereins verkündet.
Dass ein jüdisches Orchester nur ein Jahr nach der Befreiung vom Nationalsozialismus im Nürnberger Musentempel auftreten würde, hätte sich die NS-Führung wohl kaum vorstellen können, denn das Haus spielte in der nationalsozialistischen Propaganda eine wichtige Rolle. Insbesondere die Inszenierungen von Wagners „Meistersinger“, Hitlers Lieblingsoper, gehörten ab 1933 zum festen Kulturprogramm der Nazi-Reichsparteitage. Eine der letzten Wagner-Aufführungen, die „Götterdämmerung“, fand im August 1944 statt. Zu dieser Zeit lag Nürnberg schon weitgehend in Schutt und Asche.
Wie Adolf Hitler besuchte auch Julius Streicher regelmäßig die Aufführungen im Nürnberger Opernhaus, wenngleich der „Frankenführer“ eigentlich für die leichte Muse schwärmte. Dennoch saß der Gauleiter bei den vielen Wagner-Aufführungen oft an Hitlers Seite in der eigens angelegten „Führerloge“. Zum Ausgleich hörte Julius Streicher jedoch seine Lieblingsoperette „Schwarzwaldmädel“, die, obwohl sie aus der Feder des jüdischen Komponisten Leon Jessel stammt, auf seinen Wunsch hin bis 1937 mit großem Erfolg in Nürnberg gespielt wurde.
Überlebende des „Kovnoer-Ghetto-Orchesters“ (Litauen) und andere jüdische Ex-Häftlinge hatten nach dem Krieg im bayerischen Benediktinerkloster St. Ottilien, das sich ab April 1945 in ein DP-Krankenhaus verwandelt hatte, das erste jüdische Nachkriegsensemble gegründet. Von den einstmals 45 litauischen Orchestermitgliedern lebten nur noch neun. Dennoch gelang es den Musikern, unter der Leitung ihres Dirigenten Michael Hofmekler, zur bekanntesten jüdischen Musikgruppe in der Nachkriegszeit aufzusteigen. Mit jiddischen und hebräischen Liedern erwärmte die Kapelle, die sich bald „Jewish Ex-Concentration Camp Orchestra“ nannte, die Herzen der an Leib und Seele verletzten Leidensgenossen.
Bis dato ist das Gastspiel der jüdischen Musiker in der ehemaligen Stadt der Reichsparteitage nur wenig bekannt. Dank Dokumenten, die im Archiv des „YIVO Institute for Jewish Research“ in New York aufgehoben werden, ist es jedoch möglich die Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen. Unter der Überschrift „Ajndruksfuler jidiszer Koncert“ berichtete „Undzer Wort“ über den Auftritt der jüdischen Musiker im Nürnberger Opernhaus. Dabei beschreibt die Zeitung ausführlich das Bühnenszenario: „Als sich der Vorhang hebte, waren die anwesenden hohen Gäste ob des sich ihnen darbietenden Bühnenbildes sichtlich berührt“, schrieb das Blatt: „Die Musiker trugen original KZ-Häftlingskleidung, jeder mit einer Nummer versehen und einem gelben Stern auf der Brust. Auf der rechten Seite der Bühne, ein bisschen im Schatten von einer Palme, prangte ein großer Davidstern mit der in hebräischer Schrift versehenen Aufschrift ,Zion‘.“
Mit dieser Dekoration wollten die Künstler ihre Absicht auf eine baldige Übersiedlung nach Erez Israel unterstreichen. Denn der sich noch im Aufbau befindliche jüdische Staat stellte für sie die einzige wirkliche Hoffnung dar in einer Welt, die sie als Hölle erfahren hatten. Neben dem Glauben an die Zukunft thematisierten die Interpreten in ihren Liedern aber auch Tod und Verfolgung. Gleichwohl zeigte sich das Publikum von dem „herrlichen Konzert“ so beeindruckt, dass es, nachdem Dirigent Michael Hofmekler und sein Orchester mit viel Applaus bedacht worden waren, noch lange still im Saal sitzen blieb.
Auf Einladung des „Jüdischen Kulturamts“ trat das Orchester einen Tag später, am 8. Mai, auch im Theatersaal des Fürther DP-Camps auf. Die von der US-Militärverwaltung beschlagnahmte Arbeitersiedlung „Eigenes Heim“ diente seit Anfang 1946 rund 800 Holocaust-Überlebenden als vorübergehendes Zuhause. „Im bis zum letzten Platz besetzten Theatersaal wurden die Künstler herzlich begrüßt“, schrieb „Undzer Wort“. Über den bewegenden Auftritt der Musiker heißt es: „Das Konzert wird noch lange in der Erinnerung der Bewohner des Fürther DP-Lagers verbleiben.“
Zwischen 1945 und 1949 gastierte das Orchester, das sich im September 1946 in „Repräsentatives Orchester der Sheerit Hapleta“ umbenannt hatte, in fast jedem größeren DP-Lager in der amerikanischen Zone und erfreute zu besonderen Anlässen, wie etwa zum ersten Kongress des Zentralkomitees der befreiten Juden im Januar 1946 in München auch den späteren Premierminister Israels, David Ben Gurion.
Die ergreifendsten Auftritte des Orchesters waren aber sicherlich die Konzerte im Mai 1948 in den DP-Lagern Feldafing und Landsberg unter Leitung des berühmten Dirigenten Leonard Bernstein, der auf Einladung der US-Militärregierung ins besetzte Deutschland gereist war. Neben der Orchesterleitung hatte Bernstein auch die Klavierbegleitung etwa bei der „Rhapsody in Blue“ von George Gershwin übernommen. Die größte Begeisterung lösten aber die beiden hebräischen Lieder aus, da viele Konzertbesucher schon seit Jahren davon träumten, endlich nach Erez Israel zu emmigrieren. Als Bernstein erwähnte, dass er auch plane, bald in den jüdischen Staat zu reisen, bestürmten ihn einige Musiker, sie doch mitzunehmen.
Das Orchester löste sich 1949 auf, nachdem die DP-Camps sukzessive geschlossen wurden und auch die Mitglieder des Ensembles nun endlich die Möglichkeit hatten, ein neues Leben in den Vereinigten Staaten oder in Israel zu beginnen.
Quellen:
Abby Anderton, Displaced Music. The Ex-Concentration Camp, Orchestra in Postwar Germany, in: Journal of Musicological Research, 34, 2015.
Sonia Pauline Beker, Symphony on Fire. A Story of Music and Spiritual Resistance During the Holocaust, New Milford (NJ) 2007.
Centrum Industriekultur (Hg.), Unterm Hakenkreuz. Alltag in Nürnberg 1933–1945, München 1993.
Ajndruksfuler jidiszer Koncert in Nürnberg, Undzer Wort, 17. Mai 1946.