Harry Maor – Chronist des deutsch-jüdischen Neuanfangs

Harry Maor wurde am 27. Mai 1914 in München als Harry Obermayer geboren. Der Vater Joseph Gischner stammte aus Czernowitz, Mutter Amalia Obermayer aus einer böhmischen Schaustellerfamilie. Harry hatte einen jüngeren Bruder namens Maimon. Nach Kindheit und Jugend in München absolvierte Harry die Jüdische Präparandenschule in Höchberg, nach der Trennung der Eltern wurde ihm dies durch die Jüdische Gemeinde München ermöglicht.

Er beendete die Ausbildung zum Religionslehrer jedoch nicht, zu sehr hatten ihn die Schriften von Freud und Marx in den Bann gezogen, mit denen er durch seinen Englischlehrer in Berührung kam. Zurück in München engagierte er sich in linkszionistischen Kreisen, hörte „schwarz“ Vorlesungen an der Universität und hielt sich dabei mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser.
Im April 1933 meldete sich Harry Obermayer auf einer Versammlung der „Nationalsozialistischen Betriebszellen-Organisation“ zu Wort, obwohl Juden der Zutritt verwehrt war. Er wurde von SA-Männern überwältigt und im Anschluss zu zehn Tagen Haft verurteilt. Danach verließ er Deutschland, ging zunächst auf Hachschara, einer landwirtschaftliche Ausbildung als Vorbereitung für die Kibbuz-Arbeit, in die Slowakei und konnte dann nach Palästina emigrieren.

Im Kibbuz Tel Joseph in der Jesreel-Ebene, wo er sich zunächst niederließ und im Kuhstall arbeitete, blieb er jedoch nicht lange. „Weder die Kühe noch seine Vorgesetzten hatten Verständnis dafür, dass er auch beim Melken Bücher las“, so Harry Maors Enkel Julian Levinson, Professor für Anglistik und Judaistik an der University of Michigan, in einer biografischen Skizze über seinen Großvater.
Harry zog nach Haifa, arbeitete am Bau und gab Hebräisch-Unterricht. Selbst lernte er Arabisch und arbeitete für eine kurze Zeit für eine deutschsprachige Zeitung in Beirut. Für Palästina befürwortete Harry einen binationalen Staat.

1939 lernte er Gila Reifen kennen. Das Paar heiratete und zog nach Tel Aviv, wo sie zwei Kinder bekamen. Seinen Sohn benannte Harry nach seinem Bruder Maimon, der nicht mehr rechtzeitig aus Nazi-Deutschland fliegen konnte und ermordet wurde. Harry wollte studieren, was ihm jedoch aus finanziellen Gründen nicht möglich war. Er wurde Sozialarbeiter und leitete die Sozialabteilung von Ramle, einer arabisch-jüdischen Stadt im Zentrum des Landes. 1951 fuhr Harry zu Besuch nach Deutschland, arbeitete für einige Monate als freier Mitarbeiter für die „Jüdische Allgemeine Wochenzeitung“ und überlegte, ob er in Deutschland studieren könnte. Nachdem seine Stelle in Ramle gestrichen werden musste, tat er den Schritt und zog mit seiner Familie nach Deutschland, wo er in Düsseldorf als Redakteur der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung arbeitete. Er nahm außerdem ein Studium der Soziologie auf.

1955 begann Harry Maor, wie er sich seit der Rückkehr nach Deutschland nannte, als Jugendreferent für die 1951 gegründete Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland zu arbeiten. Hier war er auch am Aufbau der Sommerferienfreizeiten beteiligt, die für die in diesen Jahren sehr kleine und räumlich verstreute jüdische Gemeinschaft ein wichtiger identitätsstiftender Faktor werden sollte. „Harry war zeit seines Lebens ein begeisterter Lehrer, und die erzieherische Arbeit im Spannungsfeld zwischen jüdischer Tradition und moderner Welt, zwischen Zukunftsoptimismus und Besinnung auf die gerade erst zurückliegenden Jahre fürchterlichster Verfolgung inspirierte ihn,“ betont Julian Levinson. Als Jugendreferent gab Maor nach 1945 auch die erste Zeitschrift für jüdische Kinder und Jugendliche, die „Jüdische Jugend“, heraus. „Ihr seid die Generation nach der Tragödie unseres Volkes. Wir brauchen jetzt wieder Jugend und wir wissen, dass eine neue jüdische Jugend ans Werk will. Die ältere Generation des jüdischen Volkes braucht Eure junge Kraft, ohne Euch dafür viel versprechen und geben zu können“, schrieb er im Grußwort der ersten Ausgabe.

1961 promovierte Harry Maor an der Universität Mainz mit einer Arbeit „Über den Aufbau der Jüdischen Gemeinden in Deutschland seit 1945“ und befasste sich aus soziologischer Perspektive damit als erster mit der demographischen Entwicklung der Gemeinden in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs, ihrer spezifischen Zusammensetzung aus wenigen Überlebenden, Remigranten und in Deutschland verbliebenen Displaced Persons. Über das jüdische Selbstverständnis schreibt er in seiner Zusammenfassung: „Offensichtlich kann die Selbstbezeichnung „Jude in Deutschland“ nur bedeuten, dass sich die heutigen Juden, ob sie nun deutsche Staatsangehörige sind oder nicht, von ihren „„nichtjüdischen Mitbürgern““ durch noch etwas anderes als das Bekenntnis getrennt fühlen.“

Neben seiner Arbeit und der Promotion war Harry Maor als Übersetzer tätig. Mehr als 60 Bücher übertrug er aus dem Englischen, Französischen, Hebräischen und Jiddischen, darunter Werke von Erich Fromm und Saul Friedländer, Isaac Deutschers Trotzki-Biographie, sowie Standardwerke über die russische Revolution und die Geschichte der Psychiatrie.

1963 zog die Familie zurück nach Israel, wo Maor als Englisch-Lehrer arbeitete, ansonsten aber beruflich nicht Fuß fassen konnte. Und so wechselten die Familie wieder nach Deutschland, wo Maor an einer Habilitation über die Säkularisation des deutschen Judentums seit Moses Mendelssohn arbeitete. Nach einem zweijährigen Aufenthalt am King’s College der Western Ontario University in Kanada habilitierte er sich 1969 an der Universität Heidelberg. Ein Semester lehrte er danach an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen bis er 1971 schließlich an die neugegründete Gesamthochschule Kassel berufen wurde, wo er Soziologie und Sozialarbeit lehrte. Maor ist Autor des Standardwerks „Soziologie der Sozialarbeit“ und Mitherausgeber des „Lexikons der Sozialen Arbeit“.

Nach der Emeritierung zogen Harry Maor und seine Frau Gila erneut zurück nach Israel und ließen sich 1979 in Tel Aviv nieder. Dort starb Harry Maor 1982 im Alter von 68 Jahren.
Julian Levinson erinnert sich an seinen Großvater, der ihn auf seine Bar Mizwa vorbereitete mit den Worten: „Indem er seine Ideale, seine Hoffnungen, vielleicht sogar sein Selbstwertgefühl so unbeirrt auf ihre Wesentlichkeiten reduzierte, wurde er beweglich und frei und konnte gleichzeitig unversehrt erhalten, was wir wohl mit dem Begriff Seele bezeichnen.“

Quellen:

Julian Levinson, Die jüdische Wanderschaft des Harry Maor, in: Kasseler Semesterbücher. Studia Cassellana, Band 13.

Sebastian Braun, Harry Maor – Ein Pionier jüdischer Sozialarbeit in der Nachkriegszeit, in: Schalom. Zeitung des Jüdischen Museums Westfalen, 82/2018.

http://harrymaor.com/