Das hebräische Gymnasium München

Eine Oberschule für Kinder von Shoa-Überlebenden

Nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus entwickelte sich München zwischen 1945 und 1950 zu einem jüdischen Transitzentrum. Tausende warteten in der ehemaligen NS-Hochburg, der „Hauptstadt der Bewegung“, auf eine Weiterreise nach Erez Israel oder Übersee. Doch der jüdische Staat existierte noch nicht und viele Emigrationsländer hielten ihre Tore fest verschlossen. So mussten die Juden im Land der Täter ausharren. In dieser Zeit kam es zu einer Renaissance der nahezu vernichteten jüdischen Kultur, es wurden Zeitungen verlegt, Theater gegründet, Chaderim und Koschere Küchen eröffnet und eine autonome höhere jüdische Lehranstalt nahm ihren Lehrbetrieb auf.

„Als ich hörte, dass es in München ein hebräisches Gymnasium gibt, wollte ich sofort dorthin“, erinnert sich die 1932 als Jochewed Rawdin in Warschau geborene Yola Schneider. Seit 1949 ist das australische Sydney ihre Heimat. Die Jüdin hatte, wie ihre Mutter, die Shoa mit „arischen“ Papieren überlebt. Vor dem wieder aufflammenden Antisemitismus im Nachkriegspolen waren Mutter und Tochter in die Sicherheit der Displaced Persons Camps ins besetzte Deutschland geflüchtet.

Yola (1. Reihe, 1. v. r.) und ihre Klassenkameraden mit Lehrerin Frau Epstein (4. v. r.) . (Repro: nurinst-archiv – Sammlung Yola Schneider)

In der bayerischen Metropole residierte das Zentralkomitee (ZK) der befreiten Juden in der US-Zone, hier befand sich das Hauptquartier der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation AJDC und die Jewish Agency hatte ihr Deutschlandbüro in der Stadt. Diese Organisationen waren zumeist in beschlagnahmten Häusern in der Möhlstraße im Ortsteil Bogenhausen untergebracht. Die Trambahn, die in dieses Viertel fuhr, wurde im Volksmund scherzhaft „Palästina-Express“ genannt. Mitten im Herzen des jüdischen München, im Gebäude mit der Hausnummer 45 waren die jüdische Volksschule, der Kindergarten und ab Mai 1946 auch das erste hebräische Gymnasium in der Nachkriegszeit untergebracht. Initiiert und später auch geleitet wurde die Oberschule von Baruch Graubard, Mitarbeiter des „Ausschusses für Erziehung und Kultur“ beim ZK, der bereits in Polen einem hebräischen Gymnasium als stellvertretender Direktor vorgestanden hatte.

Jüdische Volksschulen hatten sich bereits nach dem Ersten Weltkrieg in Nürnberg und München etabliert. Hintergrund waren der in der Weimarer Republik anwachsende Antisemitismus, aber auch der Wunsch der Eltern, ihre Kinder in einem jüdischen Umfeld zu erziehen. Mit der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten und der Ausgrenzung jüdischer Jungen und Mädchen aus den staatlichen Bildungsanstalten erlebten die jüdischen Schulen einen temporären Aufschwung – wenn auch gezwungenermaßen. Weitere Schulen entstanden in Bayern, etwa in Augsburg oder Schweinfurt – bis im Jahr 1942 reichsweit alle diese jüdischen Anstalten liquidiert wurden. Schon 1939 musste die Jüdische Realschule in Fürth, die einzige jüdische Oberschule in Bayern schließen

Erst sieben Jahre danach konnten wieder Schüler im Hebräischen Gymnasium in jüdischer Religion und Palästinakunde unterrichtet werden sowie die hebräische Sprache erlernen. Selbstverständlich standen auch die allgemeinbildenden Fächer wie etwa Mathematik, Chemie, Biologie, Geschichte, Kunsterziehung, Englisch, Französisch sowie auch Sport auf dem Stundenplan. Das beim Zentralkomitee angesiedelte „Kulturamt“ hatte ein Curriculum für sechs Klassen ausgearbeitet. Anfangs kamen jedoch nur vier Klassen mit rund 110 Schülern zustande. Erst ab 1947 konnten dann die angestrebten sechs Klassen zusammengestellt werden und man erwartete fürs neue Schuljahr sogar eine deutliche Zunahme der Schülerzahl – bis zu 150. „Viele werden von außerhalb München kommen“, prognostizierte ein AJDC-Mitarbeiter, „da dies die einzige Oberschule in der US-Zone ist.“ Für diese Schüler mussten Unterkünfte organisiert und dafür Sorge getragen werden, dass sie rechtzeitig zum Unterricht gelangten. Da während der häufigen Stromsperren der öffentliche Nahverkehr nicht funktionierte, stellte die Hilfsorganisation Fahrzeuge für den Transport der Schüler bereit. Ab Januar 1947 half bei der Lösung der vielfältigen Probleme auch ein gewählter Elternbeirat, der sich etwa um zusätzliches Heizmaterial, Kleidung und Nahrungsmittel für Schüler und Lehrer kümmerte.

Zeugnis für Jochewed Rawdin des Hebräischen Gymnasium, Schuljahr 1946/47. (Repro: nurinst-archiv – Sammlung Yola Schneider)

Yola war eine Musterschülerin; die Hochbetagte spricht neben ihrer Muttersprache Polnisch fließend Hebräisch, Jiddisch, Deutsch sowie Englisch. Sie erinnert sich immer wieder gern an ihre Schulzeit in München. Das Jüdische Komitee München, die örtliche Interessenvertretung der Schoa-Überlebenden, quartierte die damals 14-Jährige als Untermieterin bei einer deutschen Familie ein. „Ich bezahlte mit Lebensmitteln, die mir meine Mutter besorgte. In die Schule bin ich immer mit der Straßenbahn gefahren; ich war glücklich und unabhängig.“

Neben einer soliden Ausbildung galt die Vermittlung einer jüdischen Identität als wichtiges Ziel aller DP-Bildungseinrichtungen, wie Baruch Graubard auf einer Lehrerkonferenz eindringlich forderte: „Die Schule muss den Menschen in seiner jüdischen Ganzheit fördern, egal wohin er auswandern will – nach Erez oder in andere Länder.“ Die Mehrheit der jungen Juden war allerdings zionistisch ausgerichtet. Sie träumten von einem zukünftigen Leben im noch zu gründenden eigenen Staat. Auch Yola wollte ursprünglich am Aufbau Israels mitwirken. Doch ihre Mutter entschied sich für Australien, da sie dort Verwandte aufspüren konnte. Ende 1949 machten sich Mutter und Tochter auf den Weg nach Down Under, wo sie nach einer mehrwöchigen Schiffsreise im Dezember 1949 endlich ihre neue Heimat erreichten.

Nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 sowie der zunehmenden Liberalisierung der Immigrationsgesetze in den USA und anderer Einwanderungsländer verließen fast alle Juden München. Das hebräische Gymnasium schloss Anfang 1951 endgültig seine Pforten.

Es gab keine Notwendigkeit mehr, eigene jüdische Schulen zu unterhalten. Die wenigen in Deutschland lebenden Juden schickten ihre Kinder auf Internate ins Ausland. Erst 1969 eröffnete in München mit der „Sinai-Schule“ abermals eine jüdische Grundschule; seit 2016 gibt es in München wieder ein Jüdisches Gymnasium – 65 Jahre nach der Schließung des „Hebräischen Gymnasiums München“.

Quellen:

Dokumente aus den Beständen Leo W. Schwarz Papers des YIVO Institutes (New York).

Interview/Korrespondenz mit Yola Schneider (Sydney), nurinst archiv (DP-AUS, 60/2).

Claudia Prestel, Jüdische Schul- und Erziehungswesen in Bayern 1804–1933. Tradition und Modernisierung im Zeitalter der Emanzipation, Göttingen 1989.