„Wörter eines Gedichtes sind wie ein Gebet“
Jehuda Amichai wurde am 3. Mai 1924 als Ludwig Pfeuffer in Würzburg geboren. Die Eltern, der Kaufmann Friedrich Moritz Pfeuffer und seine Frau Frieda geb. Walhaus, erzogen Ludwig und seine zwei Jahre ältere Schwester Rachel traditionell orthodox. Die Familien waren seit Jahrhunderten in Süddeutschland ansässig und „lebten selbstverständlich und offen und stolz als Juden in ihrer christlichen Dorf-Umwelt, die ihrerseits die Landjuden schätzte und achtete“, wie Jehuda Amichai über seine Familie schrieb.
Ludwig und seine Schwester besuchten die jüdische Volksschule und lernten biblisches Hebräisch. Ihre Welt war auf das orthodoxe Würzburg zwischen Haus und Synagoge konzentriert. Daneben pflegte die Familie die deutsche Kultur, Jehuda las zuhause Goethe, Schiller, Heine und andere Klassiker. Die enge religiöse Lebenswelt beeinflusste Ende der 1920er Jahren auch das Geschäft der Familie und der Vater musste schließlich als Handlungsreisender den Unterhalt verdienen.
Nach 1933 wuchs der Druck auch auf Jüdinnen und Juden in Würzburg und auf Familie Pfeuffer. Das Nazi-Regime habe für ihn aber „keinerlei Schock über das Anderssein und Fremdsein“ gebracht. „Ich war mir der nichtjüdischen Umwelt wohl bewusst; ich hatte ihre Feindseligkeit schon vor Hitler gespürt.“ Fast täglich habe es Steine und Rufe wie „Saujuden“ gegeben. Trotzdem habe er sich sehr wohl gefühlt „in der schönen Stadt Würzburg. Ich liebte die Gassen und alten Häuser. Ich machte viele Wanderungen in die Landschaften ringsum. Wälder und Bäche, Fluss und Brücken, Weinberge und Glockenklänge waren Teil meiner schönsten Erlebnisse in frühester Kindheit.“
1935 wurde Jehuda auf dem Nachhauseweg verprügelt, der Vater von SS-Mitgliedern bedrängt. Die Familie entschloss sich zur Emigration und konnte noch im Juli 1936 nach Palästina auswandern. Bei der Ankunft in Haifa „knieten mein Vater und meine Mutter nieder, um den grauen Beton der heiligen Erde zu küssen, wie Juden es seit Generationen getan haben“. Zunächst ließ sich die Familie in Petach Tikwa nieder. Amichai beschrieb die Anfangszeit als eine „jüdische Insel in der Umwelt“, obwohl sie „ganz aus Juden bestand.“ Doch diese Umwelt sei für sie fast eine Umwelt von Gojim gewesen, „also von Nichtjuden, in der Kinder Fußball spielten, auf die Bäume kletterten, auf Eseln ritten, während ich ganz wie in Deutschland neben meinem Vater in der Synagoge stand, meine Gebete wie zuvor in Hebräisch betete, während durch die Fenster das Spielgeschrei der Kinder im selben Hebräisch in die Synagoge drang.“Ein Jahr später zogen die Pfeuffers nach Jerusalem, wo Ludwig, der jetzt seinen zweiten hebräischen Vornamen Jehuda nutzte, die Maaleh-Schule besuchte, eine städtische religiöse Oberschule. In Jehudas Klasse waren überwiegend Jeckes, deutsche Juden, die untereinander auch Deutsch sprachen. Durch die traditionelle Ausbildung und seine Kenntnisse im biblischen Hebräisch fand er sich aber auch in der neuen Sprache, dem modernen Hebräisch schnell zurecht. Ehemalige Schulkameraden erinnerten sich, dass er in jenen Jahren stets mit einem Notizbuch unterwegs war, in dem er Beobachtungen notierte. Für das Jahrbuch schrieb er kleine Geschichten und Beiträge, auf Deutsch versuchte er sich an einem Roman. Vom Judentum als Religion hatte er sich in dieser Zeit bereits entfernt, was für den Vater schwer war, aber letztlich akzeptiert wurde.1942 trat Jehuda Pfeuffer der Jüdischen Brigade, einer Abteilung innerhalb der britischen Armee, bei und kämpfte in Ägypten. Nach dem Krieg machte er eine Ausbildung zum Lehrer, die speziell für ehemalige Soldaten der Brigade ausgelegt war, und unterrichte zunächst an einer Grundschule. In Israels Unabhängigkeitskrieg kämpfte er als Mitglied der Negev Brigade des Palmach, weitere Kriege sollten folgen. Die emotionalen Erfahrungen als Soldat, Angst und der Verlust von Kameraden wurden später zu einem der seine Lyrik bestimmenden Themen.
Nach dem Unabhängigkeitskrieg studierte Jehuda Hebräische Literatur und Tanach an der Hebräischen Universität Jerusalem und arbeitete weiter als Lehrer, auch am Gymnasium und später als Hochschuldozent. 1946 änderte er seinen Nachnamen in Amichai (Mein Volk lebt). 1949 heiratete er Tamar Horn, Sohn Ron wurde 1961 geboren. In diesen Jahren begann er, ernsthaft zu schreiben und Gedichte auf Hebräisch zu verfassen. Sein erster Gedichtband, „Jetzt und in anderen Zeiten“, erschien 1955, der Auftakt für eine 45-jährige Karriere, die ihn zu einem der bekanntesten und meist gelesenen Lyrikern des Landes machte. Amichai verfasste aber auch zahlreiche Erzählungen, Schau- und Hörspiele.
Im Gegensatz zum Zeitgeist der 1950er Jahre schrieb Amichai aus einer persönlichen inneren Perspektive über den Krieg, wie etwa über seinen Kommandanten „Dicki“, ebenfalls ein Jecke, der im Unabhängigkeitskrieg fiel. In seinem Werk scheint in zahlreichen intertextuellen Verknüpfungen immer wieder sein religiös-traditioneller Hintergrund durch. Amichai, der nicht das typische Boheme-Leben eines Dichters führte, war ein zurückhaltender und bescheidener Mensch, was sich ebenfalls in seinem Werk spiegelt. Seine zahlreichen Liebesgedichte sind leise stille Beobachtungen, oft von Alltagssituationen. Amichai war in zweiter Ehe mit Chana Sokolov verheiratet, mit der er zwei Kinder bekam.
Jehuda Amichai war Gastprofessor in Berkeley, „Poet in Residence“ an der New York University, 1982 wurde er mit dem Israel-Preis und dem Bialik Preis ausgezeichnet. Seine Werke wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seine Heimatstadt Würzburg zeichnete ihn 1981 mit dem Kulturpreis aus und benannte 2005 eine Straße nach ihm. Er war mehrfach für den Nobelpreis nominiert.
In Israel sind Jehuda Amichais Gedichte sehr bekannt und präsent, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass viele davon vertont wurden. Vor allem an Jom haSikaron, am Gedenktag der Gefallenen und Opfer von Terroranschlägen ist Amichai fester Bestandteil des nationalen Liederkanons. Auch bei offiziellen Anlässen und Reden wird er oft zitiert, so las beispielsweise Israels Premier Jitzhak Rabin 1994 in Oslo aus dem Gedicht „Gott erbarmt sich der Kindergartenkinder“. Aber auch Amichais Liebeslieder wurden vertont, wie etwa „In unserer Liebe“ von Jehudit Rawitz.
Amichais deutscher Hintergrund blieb ein wesentlicher Bestandteil seiner Schaffens- und Lebenswelt. Er zeigt sich nicht nur in seinem Werk durch die Einflüsse der deutschen Poesie, sondern prägte auch seine israelische Identität. Über sein Judentum schrieb es, dass er „als typischer Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts, fühle, dass meine geistige Welt aus allerlei Überbleibseln und Resten aus Geschichte und Geist zusammengesetzt ist. Da gibt es viele Restchen in vielen Töpfen, aus denen ich mir mein persönliches und überpersönliches Judentum zusammenkoche“.
In Folge einer Krebserkrankung starb Jehuda Amichai am 22. September 2000 in Jerusalem im Alter von 76 Jahren.
Quellen:
Jehuda Amichai, Gedichte, Königshausen 2018.
Renate Eichmeier/Edith Raim (Hg.), Zwischen Krieg und Liebe. Der Dichter Jehuda Amichai, Berlin 2010.
Ruti Keren: „Ich heiße Juda“ – Leben und Werk von Jehuda Amichai, Podcast Kol Israel, https://www.kan.org.il/content/kan/podcasts/p-8554/744379/ (hebr.).
Jehuda Amichai, A Life of Poetry 1948-1994. New York 1994.