Abraham Sutzkever: Poet, Chronist und Partisan

Sein Besuch in Nürnberg im Frühjahr 1946

„Gestern wurde als Zeuge des russischen Anklägers der berühmte junge jüdische Schriftsteller Abraham Sutzkever aus Wilna vernommen“, berichtete der Korrespondent der jiddischen Zeitung „Undzer Weg“ im Februar 1946 über den Auftritt des ersten jüdischen Zeugen vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg.

Sutzkever wurde 1913 unweit von Wilna geboren, dem intellektuellen Zentrum des aschkenasischen Judentums, das damals den Ehrentitel „Jerusalem des Ostens“ trug. Neben Issac Bashevis Singer zählt er zu den bedeutendsten jiddischen Dichtern des 20. Jahrhunderts. Anfang der 1930er Jahre publizierte Sutzkever erste Gedichte und wurde Mitglied der avantgardistischen Künstler- und Poetenvereinigung „Jung Wilne“. Weitere Veröffentlichungen folgten. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Wilna und der Errichtung des Ghettos schloss er sich dem jüdischen Widerstand an; er trat der „Fareinigten Jidisze Partisaner Organisatie“ (FPO) bei. Gleichwohl schrieb Sutzkever auch in dieser Zeit Gedichte und versteckte wertvolle jüdische Bücher, u. a. aus dem Bestand des YIVO-Instituts, und rettete damit die Schriften vor der Vernichtung. Im Herbst 1943 gelang ihm die Flucht aus dem Ghetto. Mit einer jüdischen Partisanengruppe unter sowjetischem Kommando kämpfte er weiterhin gegen den Nationalsozialismus. Noch während des Krieges engagierte sich der Dichter in dem von Ilja Ehrenburg in Moskau gegründeten „Jüdischen Antifaschistischen Komitee“. Er beteiligte sich an der Herausgabe der Dokumentation „Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden“ und steuerte den umfangreichen Report „Das Ghetto von Wilna“ bei.
Sutzkever war der erste jüdische Zeuge in Nürnberg, als er am 27. Februar 1946 seine Aussage machte. In der ehemaligen Stadt der Reichsparteitage wurde über die Anklagepunkte Verschwörung gegen den Frieden, Vorbereitung und Führung eines Angriffskriegs, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit verhandelt. Nicht aber über die Shoa als expliziter Anklagepunkt. Sutzkever wollte daher unbedingt in seiner Muttersprache auf Jiddisch aussagen, doch die sowjetische Delegation bestand auf Russisch. Er wurde auch als „Staatsbürger der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ vereidigt.

Der Zeuge Abraham Sutzkever vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg.
(Repro: US National Archives and Records Administration – Public Domain).

Die mit „brennender Unruhe“ vorgetragenen Aussagen des „mageren, mittelgroßen jungen, blassen Manns“ über die von den Deutschen verübten Verbrechen, insbesondere in Wilna, haben einen „starken und unvergesslichen Eindruck“ hinterlassen, schrieb die jiddische Presse: Wie Sutzkever die Tragödie des Wilnaer Judentum schilderte mit rund 80.000 Toten, viele wurden an die Massenexekutionsstätte Ponary verschleppt und dort erschossen. „Am 17. Juli 1941 war ich Augenzeuge eines großen Pogroms in Wilna, und zwar in der Nowgorodstraße“, berichtete Sutzkever ergänzend dem Gericht. Alle Männer wurden zusammengetrieben, etwa 100 bis 150 sofort erschossen. „Ich habe selbst gesehen, als sich meine Kolonne in Bewegung setzte“, erklärte er, „wie die Blutströme die Straße entlangliefen, als wäre ein roter Regen herabgekommen.“
Im Zuge seiner Vernehmung berichtete der Zeuge von weiteren Grausamkeiten wie etwa, dass Ende Dezember 1941 den jüdischen Frauen verboten wurde, ein Kind zu gebären. „Wenn die Deutschen erführen, dass eine Frau einem Kind das Leben geschenkt hat, würde das Kind vernichtet werden“, erklärte Sutzkever auf Nachfragen des Richters.

Sutzkever war bereits am 21. Februar 1946 in Nürnberg angekommen, wo er im Grand Hotel untergebracht wurde. Er schaute sich in der Stadt um, bis er endlich am 27. Februar seine Aussage vor Gericht machen konnte. Er verließ Nürnberg erst am 1. März 1946. In dieser Zeit hatte der Dichter Kontakt zu vielen jüdischen und internationalen Journalisten. Er erfuhr offensichtlich auch, dass es in der Nachbarstadt Fürth ein großes DP-Camp für Shoa-Überlebende gab – und dass der beschlagnahmte Hof von Julius Streicher in Cadolzburg (Landkreis Fürth) seit Ende 1945 einen Kibbuz beherbergte. Bis zu 130 jüdische Männer und Frauen bereiteten sich dort auf ihre Zukunft in Erez Israel vor. Sutzkever war darüber wohl völlig begeistert, da er sofort ein Gedicht über die jüdische Trainingsfarm verfasste. Das in jiddischer Sprache geschriebene Poem „In Streichers Palast“ beschreibt den Hof und seine Bewohner sehr genau und schildert auch den Besuch eines Gastes. Zudem ist der Text mit der Unterzeile „Fürth, Februar 1946“ versehen.

Es entsteht der Eindruck, dass Sutzkever persönlich auf dem Streicher-Hof war. Doch existieren keine eindeutigen Belege, wie etwa Erinnerungen von Zeitzeugen oder Hinweise in Berichten der zahlreichen jiddischen DP-Zeitungen. Der Korrespondent der „Landsberger Lager Cajtung“ (LLC), Marian Zyd, hatte jedoch den Kibbuz im Februar 1946 besucht und blieb dort auch über Nacht. Sein Artikel ist äußerst detailliert und mit Fotos versehen. Zudem schrieb Zyd auch einen ausführlichen Bericht in der LLC über Sutzkevers Auftritt vor dem Militärgericht. Die beiden kannten sich und hatten wohl auch öfters Kontakt.
Es ist nicht auszuschließen, dass Sutzkever seine Informationen von Zyd erhalten hatte, doch auch ein persönlicher Besuch des Dichters im Kibbuz liegt im Bereich des Möglichen. Wie dem auch sei, der Kibbuz auf dem Streicher-Hof fand durch Abraham Sutzkevers Gedicht Eingang in die jiddische Dichtung. Damit setzte der Schriftsteller dem jüdischen Neubeginn auf der ehemaligen Nazi-Farm ein ewiges literarisches Denkmal.

In dem Lyrikband „Jidisze Gas“ erschien 1948 das Gedicht „In Streichers Palast“. (Repro: nurinst-archiv)

Abraham Sutzkever übersiedelt nach einem Zwischenaufenthalt in Polen 1947 nach Erez Israel. Dort gründete er die jiddische Literaturzeitschrift „Di Goldne Kejt“, deren Herausgeber er bis zu ihrer Einstellung im Jahr 1995 blieb. Hochverehrt starb der Dichter, Ghettokämpfer und Zeitzeuge im Alter von 96 Jahren 2010 in Tel Aviv.

Quellen:

Marian Zyd, A Tog mit a Nacht ojf Sztrajchers Farm, Landsberger Lager-Cajtung, Nr. 6, 1946, ders., Der Jidiszer Tog fun die Sowjetn, Landsberger Lager-Cajtung, Nr. 10, 1946.

Jidiszer Edut ojfn Nirnberger Prozes, Undzer Weg, Nr. 22, 1946.

Abraham Sutzkever, Jidisze Gas, New York 1948.

Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (Hg.), Der Nürnberger Prozess. Amtlicher Text in deutscher Sprache, Bd. 8, Reichenbach 1994.

Heather Valencia, Sutzkevers Leben und Lyrik, in: Abraham Sutzkever, Geh über Wörter wie über ein Minenfeld. Lyrik und Prosa, Frankfurt/Main 2009.

Arndt Beck (Hg.), In Sodom, Avrom Sutzkever in Deutschland, Leipzig 2020.

Abraham Sutzkever, From the Vilna Ghetto to Nuremberg: Memoir and Testimony, Montreal 2021.