David Ben Gurion im Münchner Rathaus

Am 27. Januar 1946 wurde der 1. Kongress der befreiten Juden eröffnet

Wer zu dieser Zeit Lust auf einen Spaziergang durch die zerstörte Münchner Innenstadt verspürte, der hörte ungewohnte Laute: jiddische und hebräische Sprachfetzen; sie stammten von den zahlreichen Personen, die Richtung Rathaus strömten. Das Gebäude war mit einer US-amerikanischen Flagge sowie der weiß-blauen Fahne mit dem Davidstern geschmückt.

„Von Weitem sieht München wie eine Stadt ohne Juden aus“, berichtete eine jiddische Zeitung, doch „in Wahrheit ist die Stadt voll mit Juden“. Denn am Sonntag, dem 27. Januar 1946, eröffnete im Rathaussaal das „Zentralkomitee der befreiten Juden“ (ZK) seine erste Plenarsitzung. Auf einem großen Schild über dem Eingangsportal war zu lesen: „Conference of liberated Jews“. Über 200 Delegierte aus den Displaced Persons (DP) Camps waren angereist. Zahlreiche Journalisten aus dem In- und Ausland wollten über dieses Ereignis berichten. Neben den Abgeordneten aus den jüdischen Auffanglagern nahmen auch der spätere israelische Ministerpräsident David Ben Gurion, der bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner und zahlreiche hochgestellte Offiziere der alliierten Militärbehörden sowie Abgesandte von zionistischen Organisationen als Gäste teil.

Titelblatt der Landsberger Lager-Cajtung mit der Ankündigung des 1. Kongresses der befreiten Juden in der US-Zone vom 25. Januar 1946.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit lebten Zehntausende von osteuropäischen Juden im besetzten Deutschland, vornehmlich in Bayern. Sie waren Befreite aus den NS-Lagern, hatten im Untergrund, bei den Partisanen oder im sowjetischen Exil überlebt. Eine Zukunft sahen sie im „Land der Täter“ gleichwohl nicht: Die Mehrheit wollte den jüdischen Staat in Palästina aufbauen. München war zu dieser Zeit so etwas wie die Hauptstadt der Shoa-Überlebenden – eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Erez Israel. Im Frühjahr 1946 hielten sich im Stadtgebiet über 6.000 Juden auf: in beschlagnahmten Wohnungen und Sammelunterkünften, wie etwa im Lager Neu-Freimann oder in der Funkkaserne. In diesen DP-Camps und Gemeinden entstanden Selbstverwaltungskomitees und es dauerte nicht lange, bis auch ein Dachverband gegründet wurde und die konstituierende Versammlung des „Zentralkomitees der befreiten Juden in der US-Zone“ im Münchner Rathaus stattfand. Wie eine Regierung, allerdings ohne Staat, ist das demokratisch gewählte ZK für die Verwaltung des jüdischen Lebens im „Land der Täter“ zuständig. An der Stirnseite des Saales war ein großes Transparent gespannt, auf dem in hebräischer Sprache geschrieben stand: „Solange ein jüdisches Herz in der Welt schlägt, schlägt es für das Land Israel“. Alle Redner forderten vehement die sofortige Einrichtung eines jüdischen Staates. Als David Ben Gurion ans Rednerpult trat, kannte der Jubel keine Grenzen mehr. Mit mehr als deutlichen Worten begründete Ben Gurion den Anspruch auf eine „jüdische Heimstatt“ auf historischem Gebiet: „Das jüdische Volk begründete Palästina, Palästina hat das jüdische Volk hervorgebracht; es gibt kein anderes Volk in der Welt, das Palästina erschuf.“

Dr. Zalman Grinberg, Präsident des Zentralkomitees, begrüßt die Delegierten und den Ehrengast David Ben Gurion (3. v. r.) im Münchner Rathaus. (Repro: nurinst-archiv)

Wenngleich er seine Rede in englischer Sprache hielt, verstanden viele der anwesenden DPs Ben Gurions Worte intuitiv. Das lag sicher nicht zuletzt an seinem Charisma, erschien er doch vielen Juden wie ein Prophet, wie Moses, der die Israeliten aus der Knechtschaft führt. „Warum lasst ihr uns Juden nicht ein Volk werden, wie alle anderen Völker?“, fragte Ben Gurion. „Es muss ein Land in der Welt geben, in dem die Juden die Mehrheit haben – und dieses Land ist Erez Israel.“

Doch es sollte noch über zwei Jahre dauern, bis die Welt dem jüdischen Volk die politische Autonomie nicht mehr verwehren konnte. Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hatten die Shoa-Überlebenden, die sich in Deutschland wieder formierten, inmitten der Trümmerlandschaft des besiegten Feindes. Und: Ein weiterer Meilenstein auf diesem langen und schweren Weg zur jüdischen Eigenstaatlichkeit, die mit der Proklamation durch David Ben Gurion am 14. Mai 1948 in Tel Aviv vollendet wurde, war sicher der erste Kongress der befreiten Juden in der US-Zone im Münchner Rathaus.

Quellen:

Displaced Person Camps and Centers in Germany, First Congress of the Survivors in the American Zone, Berichte, Protokolle und Korrespondenz, YIVO Institute New York.

Landsberger Lager-Cajtung.