Der Zionist Meinhold Nussbaum

Es war ein Samstagmorgen im April 1933. Anna Nussbaum-Davidsohn stürzte ins Zimmer ihrer Töchter und rief: „Wir müssen fort, schnell, in 20 Minuten fährt der Zug.“ Blitzschnell packten die Kinder das Nötigste zusammen und machten sich mit ihren Eltern auf den Weg zum Bahnhof. „Doch o Schreck der Zug war weg“, schreibt Rachel Nussbaum in ihren Erinnerungen. Da eine Rückkehr in ihr Haus zu gefährlich gewesen wäre, versteckte sich die jüdische Familie bei Freunden und schlich sich erst nach Einbruch der Dunkelheit erneut zum Bahnhof.

Am 1. April 1933 hatten die Nationalsozialisten reichsweit zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. SA-Männer postierten sich vor den betreffenden Läden und Büros. Kolonnen von Verbänden des Stahlhelms der SS sowie der Hitlerjugend zog unter Absingen blutrünstiger Lieder durch Nürnberg und beschimpften und bedrohten die jüdischen Bürger. Auch das Haus der Nussbaums in der Nürnberger Villensiedlung Ebensee war gefährdet. Seit vielen Jahren war Rechtsanwalt Meinhold Nussbaum als zionistischer Aktivist stadtbekannt – hatte er sich doch seit 1917 aktiv politisch in der Nürnberger Ortgruppe der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) engagiert. In diesem Jahr verkündete die britische Regierung auch die sogenannte Balfour-Deklaration, in der den Juden das Recht auf eine „Heimstatt“ im Heiligen Land versprochen wurde. Nussbaum nahm als Delegierter am 17. Zionistenkongress 1931 in Basel teil und war Mitarbeiter der Jewish Agency. Seinen Lebensunterhalt verdiente der Jurist als Syndikus für die angesehene Nürnberger Metallwarenfabrik der Gebrüder Bing, ein im jüdischen Besitz befindliches international tätiges Unternehmen. Später unterhielt er eine eigene Anwaltskanzlei.

Bis 1933 lebte die Familie Nussbaum in dieser Villa im Nürnberger Ortsteil Ebensee. (Repro: nurinst-archiv)

Nussbaums Anwesen war das Zentrum der Nürnberger Zionisten, alle bedeutenden deutschen Vertreter dieser Bewegung, wie etwa der ZVfD-Vorsitzende, Kurt Jehuda Blumenfeld, oder auch der spätere israelische Arbeitsminister Giora (Georg) Josephthal, konnte man dort regelmäßig antreffen. „Am Sonntagnachmittag war das Haus immer voll mit Gästen, ständig waren Diskussionen im Gang in allen Wissensgebieten: Judentum, Zionismus, Literatur und Politik“, erinnert sich ein enger Freund der Familie.

Schon 1923 war Meinhold Nussbaum zu einer Erkundungsreise in das von England verwaltete Palästina aufgebrochen. Doch dort gab es für einen deutschen Juristen keine Arbeit, um eine sechsköpfige Familie zu ernähren. „Vater hat uns Feigen und Zuckerrohr von dieser Reise mitgebracht“, erinnerte sich die älteste der vier Nussbaum-Töchter Chava, die damals noch Eva hieß, noch lebhaft nach Jahrzehnten an dieses Ereignis, wie auch an den zunehmenden Antisemitismus in Nürnberg. Nicht nur in der Schule wurden die Schwestern gehänselt und ausgegrenzt. „Wenn wir zum Einkaufen gingen, riefen die anderen Kinder uns Schimpfworte wie ‚Judenstinker’ hinterher“, erzählte sie. Auch die Nachbarn in der Siedlung Ebensee machten aus ihrer judenfeindlichen Einstellung keinen Hehl. Dennoch zögerten die Nussbaums lange Zeit, ihre deutsche Heimat endgültig zu verlassen. Mit dem Boykott-Tag vom 1. April war für Meinhold Nussbaum und seine Frau Anna jedoch endgültig klar: Für Juden gibt es keine Zukunft mehr in Deutschland. Deshalb flüchtete die Familie noch am selben Tag Hals über Kopf über die Schweiz und Italien nach Palästina.

Meinhold Nussbaum und seine vier Töchter. (Repro: nurinst-archiv)

Der Anfang im „Gelobten Land“ war nicht leicht. Während Vater Meinhold mühsam das englische Jura-Examen nachholen musste, besuchten Eva und ihre Schwestern eine Landwirtschaftsschule, um sich für das Leben im Kibbuz vorzubereiten. Nahezu ihr ganzes Leben verbrachte Chava Ducas in Maoz Chaim, einer Kollektivsiedlung an der jordanischen Grenze. Dort hatte sie vor Jahren eine deutsche Literaturhistorikerin besucht und ihr eröffnet, dass der Bruder ihrer Mutter der von den Nazis verfemte expressionistische jüdische Dichter Jakob van Hoddis war. „Von ihr erfuhr ich nach über einem halben Jahrhundert, dass mein verrückter Onkel ein bekannter Dichter war.“ Sie hätte dem berühmten Lyriker aber auch nie in ihrem Elternhaus begegnen können, weil Hans Davidsohn, wie er mit bürgerlichem Namen hiess, schon seit 1914 in geistige Umnachtung gefallen war und deshalb wegen Schizophrenie psychiatrisch behandelt wurde. Dass mit der Emigration seines Schwagers Meinhold Nussbaum auch die Unterhaltszahlungen ausblieben, war ihm wohl nicht bewusst. Jakob van Hoddis wurde 1942 im Vernichtungslager Sobibor ermordet.

Meinhold Nussbaum konnte schon bald eine Rechtsanwaltskanzlei in Tel Aviv eröffnen. In seiner Funktion als Jurist reiste er bereits 1946 nach Deutschland. Er formulierte die Restitutions- und Wiedergutmachungsansprüche der jüdischen Gemeinschaft in Palästina und war maßgeblich an den Gesetzestexten hierzu beteiligt. 1953 schickte ihn der Staat Israel erneut nach Deutschland, wo er in Verhandlungen mit Bundeskanzler Adenauer die Interessen der Holocaust-Opfer und ihrer Nachkommen vertrat. Bei diesem Besuch wurde Meinhold Nussbaum von einem Auto überfahren. Wenige Wochen später erlag er seinen schweren Verletzungen. „Er starb in den Diensten des Landes und der Ziele, denen er sein ganzes Leben geweiht hatte“, würdigte das „Mitteilungsblatt“, das Organ der jüdischen Palästinasiedler aus Mitteleuropa den zionistischen Aktivisten. Denn: „Unter seiner Leitung wurden die Grundlagen geschaffen, die später das organisatorische Leben unserer Gemeinschaft bestimmten.“

Mit einer der ersten Maschinen der israelischen Fluggesellschaft El-Al, die auf deutschem Boden landete, wurden seine sterblichen Überreste nach Israel zurückgebracht.

Quellen:

Mitteilungsblatt (MB) des Irgun Olej Merkas Europa (IOME), Mai 1949, September 1953.

Interview mit Chava Ducas, Kibbuz Maoz Chaim, Februar 2002, nurinst-archiv.

Jim G. Tobias, Der Zionist Meinhold Nussbaum. Eine biografische Skizze, in: Peter Zinke (Hg.), Nächstes Jahr im Kibbuz, Nürnberg 2005.