Johanna (Henny) Stahl (1895–1943) – eine jüdische Journalistin der bürgerlichen Frauenbewegung

Im Januar 1936 forderte die Würzburger Journalistin Dr. Henny Stahl jüdische Frauen auf, sich mit ihren Themen stärker in die aktuellen Diskussionen einzubringen. „Wenn heute die Frage, was die deutsche Judenheit dem großen Philosophen und dem größeren Menschen Mendelssohn zu danken hat, neu aufgerollt […] wird, […] so müssen auch wir Frauen für unsere besonderen Probleme diese Frage heute neu überdenken.“ In ihrem Artikel „Gelehrt werden, davor behute sie Gott“ fragt sie kritisch nach dem Frauenbild Mendelssohns. Und zeigt damit, dass sie trotz der Zäsur von 1933 und inmitten der Verfolgung nicht nur an ihren journalistischen Themen der Zeit vor 1933 festhielt, sondern diese auch an die geänderte Lage anzupassen verstand.

Geboren wurde Johanna Stahl, die sich zeitlebens Henny nannte, am 16. März 1895 in Würzburg – als jüngstes Kind von Samuel und Regine Stahl, geb. Bodenheimer. Das Elternhaus war bildungsbewusst, doch Mädchen konnten noch kein Gymnasium besuchen. So ging Henny auf eine liberale Privatschule. Zu den Unterstützern der Schule gehörte der Frauenbildungsverein „Frauenheil“. Schon früh kam Stahl also mit der bürgerlichen Frauenbewegung in Berührung. Das Abitur konnte sie nur unter erschwerten Bedingungen als Externe am Realgymnasium ablegen. Zunächst studierte Henny in Würzburg Germanistik und dann in Frankfurt/Main Volkswirtschaftslehre. 1921 schloss sie mit einer sozialwissenschaftlichen Doktorarbeit ab. In beiden Städten arbeitete sie parallel zum Studium im Versorgungsamt.

Johanna Stahl ca. 1938 (Foto: Staatsarchiv Würzburg – Gestapo 14898)

Zurück in Würzburg verfasste Stahl eine wissenschaftliche Studie über öffentlich unterstützte Bedürftige in der Stadt. Vor allem baute sie sich jedoch eine freiberufliche Existenz als Journalistin auf: Sie schrieb für die Bayerische Israelitische Gemeindezeitung und vor allem für die Frankfurter Zeitung. 1927 organisierte sie für den Würzburger Verein „Frauenheil“ eine Vortragsreihe zur kulturellen Bedeutung der „Fürsorge“ und referierte 1930 zur „Stellung der Frau im Recht“. Daneben engagierte sie sich politisch in der liberalen DDP und wurde 1929 zu einer Stadtratsstellvertreterin gewählt. Zur gleichen Zeit begründete Stahl in einer Versammlung der jüdischen Gemeinde ausführlich den Antrag der liberalen Minderheitsfraktion, Frauen das passive Wahlrecht zu gewähren – mit mäßigem Erfolg. Im Herbst 1927 übertrug ihr der Verband der Bayerischen Frauenvereine die Schriftleitung seiner jungen Verbandszeitung, der Bayerischen Frauenzeitung.

In den Artikeln Stahls darin nehmen politisch-rechtliche Themen sowie Frauenthemen im engeren Sinne den breitesten Raum ein. Die Autorin präsentiert sich dabei als eine sachlich analysierende, gebildete und belesene Frau mit gesellschaftspolitischem Verantwortungsbewusstsein. Sie vermittelt Wissen, gibt Denkanstöße und unterbreitet Handlungsideen – ohne jedes revolutionäre Pathos. Es ist diese Tätigkeit und ihr Engagement für Frauenthemen in Würzburg, die den Schluss nahelegen, dass sich Stahl als Akteurin der bürgerlichen Frauenbewegung verstand. Im Jüdischen Frauenbund, der keine Ortsgruppe in Würzburg hatte, war sie hingegen wohl nicht aktiv.

Titelseite"Blätter des jüdischen Frauenbundes". Für Frauenarbeit u. Frauenbewegung. Berlin Februar 1938. XiV. Jahrgang Nummer 2.
Ab 1934 durfte Henny Stahl, wie alle jüdischen Autorinnen und Autoren, nur noch in jüdischen Blättern publizieren. (Repro: nurinst-archiv)

Als ihr Arbeitsverhältnis mit der Verlagsdruckerei Würzburg im Sommer 1931 endete, erstritt sich Henny Stahl vor Gericht das Recht, den ausstehenden Lohn der letzten fünf Monate vollstrecken zu lassen. Aus wirtschaftlichen Gründen wurde die Bayerische Frauenzeitung wenig später eingestellt.

Ab 1934 durfte Stahl aufgrund der NS-Gesetzgebung nicht mehr für nichtjüdische Zeitungen arbeiten. Großer Handlungsbedarf entstand hingegen angesichts der Verfolgungsmaßnahmen in der jüdischen Gemeinde. So begann Stahl 1934 als Mitarbeiterin in der „Arbeitsgemeinschaft für Beratung und Wirtschaftshilfe“. Sie leistete Sozial- und Emigrationsberatung sowie konkrete Hilfe. Mordechai Ansbacher (1927–2021), dessen Mutter eng mit ihr befreundet war, lobte Henny Stahl für dieses Engagement in den höchsten Tönen. Er beschrieb sie als „intelligente, besonders fähige Person“. Obwohl sie 1938 hätte emigrieren können, sei sie in Würzburg geblieben, um die vielen Hilfsbedürftigen nicht im Stich zu lassen. Neben ihrer zeitintensiven Arbeit schrieb Henny Stahl weiterhin Artikel – für jüdische Zeitungen.

Der Beitrag über Mendelssohn gehört in diese Zeit. Er zeigt exemplarisch, wie sie mit Wissen und Sachlichkeit an ihre Themen heranging und sich bemühte, Kritik und positive Würdigung miteinander in Einklang zu bringen. So kritisiert sie zwar: „Hierin zeigt sich wohl deutlich, dass auch Mendelssohn die jüdische Frau noch nicht endgültig aus der geistigen Enge herausführen wollte, […]. […] auch in der Erziehung seiner Töchter ist er in dieser Engherzigkeit befangen, er lässt sie im Ghetto zurück.“ Die gebildete Geselligkeit im Hause Mendelssohn habe jedoch andererseits eine Vorbildfunktion. Denn Mendelssohns Vorstellung von den Aufgaben und Wirkungsmöglichkeiten der jüdischen Frau gelte weiterhin: eine verinnerlichte „jüdische Bildung“ gepaart mit einem unbefangenen Umgang mit „deutscher Bildung“. In weiteren Artikeln forderte Stahl, die Bildung der Mädchen gerade in der Verfolgungszeit nicht aus den Augen zu verlieren.

Medien und Inhalte des journalistischen Oeuvres von Henny Stahl teilen sich somit in zwei Phasen. Bis 1933 publizierte sie ganz überwiegend in nichtjüdischen Medien wie der Bayerischen Frauenzeitung und der Frankfurter Zeitung, ab 1934 in jüdischen Organen: den Zeitungen des bayerischen Israelitischen Landesverbands, der Jüdischen Gemeinde Frankfurt „Für die jüdische Frau“, der CV-Zeitung „Das Blatt der jüdischen Frau“, in den Blättern des jüdischen Frauenbundes sowie in zwei weiteren jüdischen Frauenzeitungen.

Ihr Themenspektrum ist breit, gesellschaftliche und soziale Themen sowie Rechtsfragen dominieren. Nach 1933 verschiebt Stahl ihren Fokus. Nun geht es, nah an ihrer Beratungsarbeit, vermehrt um Fragen, die im weitesten Sinne mit der Emigration und dem Weiterleben der jüdischen Gesellschaft, mit Ermutigung und dem Erhalt von Werten zu tun haben. Wie ein roter Faden zieht sich durch ihr gesamtes Oeuvre dabei das Thema „Frauen“: Nur zwei ihrer bislang bekannten 57 Artikel wurden nicht in einer Frauenzeitung oder einer Frauen-Beilage gedruckt oder drehten sich um ein Frauenthema!

Nach dem Novemberpogrom 1938, als alle jüdischen Zeitungen verboten wurden, endete die journalistische Tätigkeit von Dr. Henny Stahl. Die Dringlichkeit ihrer Beratungs- und Unterstützungsarbeit wuchs jedoch. So gehörte sie zu der Gruppe der letzten Gemeindefunktionäre, die ihre Arbeit auch in der Zeit der Deportationen seit November 1941 fortsetzten und deshalb bis zum Ende 1943 in Würzburg blieben. Im März 1943 geriet Stahl ins Visier der Gestapo und wurde mit ihrem Kollegen Iwan Schwab verhaftet. Nach drei Monaten wurden beide nur entlassen, um mit dem letzten größeren Transport aus Würzburg am 17. Juni 1943 nach Auschwitz deportiert zu werden. Dort wurden sie wohl sofort ermordet.

Ein Stolperstein, eine Straße und das Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken erinnern heute an die engagierte Beraterin und an das Shoa-Opfer Henny Stahl. Ihre Rolle als Journalistin der Frauenbewegung wird hingegen gerade erst entdeckt. – (Rotraud Ries)

Quellen:

Dr. Henny Stahl, „Gelehrt werden, davor behute sie Gott“, in: Blätter des Jüdischen Frauenbundes, 1. Januar 1936.

Rotraud Ries, Henny Stahl. Eine jüdische Journalistin der Frauenbewegung, in: Jüdisches Leben in Bayern, Mitteilungsblatt des Landesverbandes Israelitischer Kultusgemeinden in Bayern, 15. Dezember 2022.

Das Zitat von Mordechai Ansbacher entstammt einem Brief an Rosa Grimm, 1995, Sammlung Johanna-Stahl-Zentrum, Würzburg.

Weitere detaillierte Quellen- und Literaturnachweise:
https://rotraud-ries.de/johanna-stahl/