Nakam verübt in Nürnberg Giftanschlag auf NS-Täter

„Wir haben moralisch gehandelt …“

„Ich glaube, wir waren das einzige Volk, das Rache an den Deutschen genommen hat“, berichtete der im litauischen Wilna geborene Leipke Distel nicht ohne Stolz. Er hatte mehrere Konzentrationslager überlebt und gehörte zu einer Gruppe von etwa 50 jungen Shoa-Überlebenden, die sich an ihren Peinigern rächen wollten. Sie waren nur von einem Wunsch beseelt: Vergeltung! So entstand im Frühjahr 1945 die Gruppe Nakam. Nakam ist das hebräische Wort für Rache. Initiator war der Ghettokämpfer und Dichter Abba Kovner. Er forderte: Für jeden der sechs Millionen Juden sollte ein Deutscher getötet werden. Um dieses Vorhaben am effektivsten umzusetzen, entwickelten die traumatisierten „Rächer“ einen wahnwitzigen Plan: In Nürnberg sollte das Trinkwasser vergiftet werden.

„Wir mussten etwas tun, damit sich die Leute merken, dass solche Gräueltaten bestraft werden.“ So hatte Joseph Harmatz seine Motive beschrieben, sich Nakam anzuschließen. 2016 ist Harmatz im Alter von 91 Jahren gestorben, als einer der letzten Zeitzeugen eines spektakulären Anschlags im April 1946 in Nürnberg. Joseph Harmatz war damals 21 Jahre jung; er stammte aus Litauen, wo die Deutschen im Juni 1941 einmarschieren. Er schloss sich dem jüdischen Widerstand im Ghetto von Wilna an und kämpft gegen die Deutschen. Als die Rote Armee im Juli 1944 Litauen befreit, sind die jüdischen Schtetl und Gemeinden von den Deutschen ausgelöscht. Von den Überlebenden wollen die meisten nach Palästina, um dort einen jüdischen Staat aufzubauen. Doch einige haben vorher noch etwas in Deutschland zu erledigen: Rache! Und Nürnberg ist dafür der ideale Ort.

Nakam-Aktivisten kurz nach ihrer Ankunft in Erez Israel. Leipke Distel (1. R., 6. v. l.), Joseph Harmatz (2. R., 7. v. l.). (Repro: jgt/nurinst-archiv)

„Nürnberg war Symbol der Nazi-Diktatur“, erklärte Joseph Harmatz, den es nach Kriegsende 1945 wie viele Überlebende der Shoa in die US-Besatzungszone nach Süddeutschland verschlagen hat: in die Stadt der Reichsparteitage und Rassengesetze, wo die Alliierten ab Oktober 1945 die Elite des Dritten Reichs vor Gericht stellen. Im Nürnberger Justizpalast wird das monströse Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen vor den Augen der Weltöffentlichkeit ausgebreitet.

Joseph Harmatz verfolgte den Prozess genau und mit wachsender Ungeduld: „Es wurden Zeugen um Zeugen vorgeladen. Die Fakten waren aber bereits alle bekannt. Unsere Leute waren ermordet worden.“ Keiner der Angeklagten zeigt Reue, ihre Anwälte verbreiten unverblümt Nazi-Propaganda. „Das machte uns krank“, erinnerte sich Harmatz. „Wir wollten mit Maschinengewehren und Handgranaten ins Gerichtsgebäude eindringen und den großen Helden ein Ende bereiten.“ Doch der Plan wird bald verworfen, als die Alliierten die Sicherheitsmaßnahmen verschärfen.

Der Plan, das Trinkwasser von Nürnberg zu vergiften, wurde jedoch von der späteren israelischen Staatsführung um David Ben Gurion im letzten Moment verhindert. Nach monatelanger Planung musste die Gruppe ihr Vorhaben abblasen. „Die Enttäuschung war damals sehr groß“, erinnerte sich Harmatz Jahrzehnte später, „doch rückblickend sind wir erleichtert, dass der Trinkwasseranschlag nicht in die Tat umgesetzt wurde“. Man einigte sich auf einen Kompromiss, so Harmatz, „gezielt etwas gegen jene zu unternehmen, die an Aktivitäten gegen Juden beteiligt waren. Und dazu gehört natürlich die SS.“
Die Alliierten hatten zehntausende SS-Leute und Nazi-Funktionäre interniert. Die „Rächer“ planen, das Brot der Gefangenen zu vergiften. Sie kundschaften das Nürnberger Internierungslager aus, das sich auf dem vormaligen Reichsparteitagsgelände befindet und fanden heraus, wo das Brot für die Gefangenen gebacken wird. Einer der Nakam-Aktivisten wird in die Bäckerei eingeschmuggelt: Leipke Distel. Kurz vor seinem Tod im Jahr 2000 hat er seine Geschichte erstmals einem deutschen TV-Team erzählt: „Ich ging ins Personalbüro der Bäckerei. Sie waren wirklich verblüfft, dass ein Jude in der damaligen Nazihochburg Nürnberg um Arbeit nachsuchte.“ Distel erhält die Stelle, macht sich mit den Abläufen in der Bäckerei vertraut, schmuggelt das Arsen aufs Werksgelände und lässt nachts zwei weitere Helfer aufs Gelände.

Die Bäckerei in Nürnberg, 1946. (Foto: US-National Archives and Records Administration – Public Domain)

Am 13. April 1946 schlagen die jüdischen „Rächer“ zu. Sie haben herausgefunden, dass das Weißbrot der Bäckerei an die alliierten Soldaten geliefert wird. Deshalb nehmen sie sich nur das Graubrot vor, das für die gefangenen Nazis bestimmt ist. „Wir waren zu dritt. Ich habe das Brot genommen und es meinem Kameraden gereicht, der mit einem großen Pinsel das Gift auf die Unterseite des Brotes gestrichen hat. Währenddessen rührte ein weiterer Kamerad ständig das Arsen um, damit es sich nicht auf dem Boden des Eimers absetzte. Als wir das 1001. Brot gestrichen hatten, freuten wir uns und küssten uns.“ Doch plötzlich werden sie vom Wachschutz überrascht und flüchten in heller Aufregung. „Wir konnten die Aktion nicht wie geplant zu Ende bringen. Aber ich schätze, dass wir circa 3.000 Brote mit Gift bestrichen haben.“ Die Brote werden planmäßig in das Internierungslager ausgeliefert. „Viele der Gefangenen wurden krank“, berichtete Joseph Harmatz. „Alle Militärhospitäler waren voll belegt und sie pumpten auf Hochtouren die Mägen aus.“

Bericht (Ausriss) aus der New York Times, 23. April 1946.

Die Aktion sorgt weltweit für Aufsehen – selbst die New York Times berichtet: 2.283 Nazis seien durch einen mysteriösen Anschlag vergiftet worden. Die Täter werden jedoch nie gefasst. Noch Jahrzehnte später kursieren in Nürnberg Gerüchte über angebliche Massengräber vergifteter SS-Männer. Tatsächlich aber fordert das Attentat nach heutigem Erkenntnisstand kein einziges Todesopfer. Denn das Arsen war offensichtlich zu schwach dosiert.

„Das Ziel der klandestinen Aktion in Nürnberg war es, der Weltöffentlichkeit zu beweisen, dass wir Juden nicht bereit waren, stillschweigend all das Morden und Töten hinzunehmen“, betont Leipke Distel jedoch. „Gelegentlich werde ich gefragt: Habt ihr moralisch gehandelt? Und ich antworte immer darauf: Wir haben moralisch gehandelt, weil wir Juden ein Recht hatten, uns an den Deutschen zu rächen.“

Diese und andere Äußerungen nahm die Nürnberger Staatsanwaltschaft 1999 zum Anlass, ein Ermittlungsverfahren gegen die beiden Männer wegen Mordversuchs einzuleiten. Das Verhalten der deutschen Justiz schlug hohe mediale Wellen, angesichts ihres jahrzehntelangen Unwillens, NS-Verbrecher anzuklagen. Zeitungen und TV-Stationen in Israel, den USA und Europa berichteten kritisch über den plötzlichen Ermittlungseifer der Staatsanwaltschaft.

Insbesondere in israelischen Medien sorgten die Aktivitäten der deutschen Justiz für mehr als Kopfschütteln. Das Blatt „Maariv“ wies beispielsweise auf die Ironie hin, dass ausgerechnet in Nürnberg, „der Stadt, in der die Rassengesetze verabschiedet wurden“, Ermittlungen gegen Shoa-Überlebende aufgenommen wurden. In der Zeitung „Jediot Acharonot“ warf der zeitweilige Leiter von Yad Vashem, Israel Gutman, die Frage auf: „Was sind Racheaktionen angesichts der Vernichtung von sechs Millionen Juden durch die Nazi-Bestien?“ Für den renommierten Historiker war klar: „Die Nakam-Aktivisten erfüllten das Vermächtnis der in den Gaskammern Getöteten.“ Und da viele ehemalige „Rächer“ tatkräftig am Aufbau des jüdischen Staates beteiligten waren, kam er zu dem Schluss: „Ihre süßeste Rache war jedoch die Wiedergeburt Israels.“

Nicht zuletzt aufgrund des öffentlichen Drucks wurde das Ermittlungsverfahren gegen Joseph Harmatz und Leipke Distel am 8. Mai 2000 eingestellt – dem 55. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Die Begründung der Justiz: „Der gescheiterte Anschlag ist wegen außergewöhnlicher Umstände des Falls verjährt.“

Quellen:

Jim G. Tobias/Peter Zinke, Nakam. Jüdische Rache an NS-Tätern, Hamburg 2000.

Jim G. Tobias/Peter Zinke, „Die Rächer“ – Jüdische Vergeltungsaktionen in Nürnberg, TV-Feature, Medienwerkstatt Franken 1999.