„Eine russische Märtyrerin auf deutschem Boden“
Sarah Sonja Rabinowitz wurde im Mai 1882 in Warschau geboren. Ihr Vater, Saul war Gelehrter, Schriftsteller und Übersetzer. Als Mitglied der Chowewei Zion nahm er 1884 an der Konferenz in Kattowitz teil. Rabinowitz war einer breiteren Öffentlichkeit auch als Übersetzer von Heinrich Graetz‘ „Geschichte der Juden“ ins Hebräische bekannt. Schon früh scheinen seine Kinder, Sonja hatte zwei ältere Brüder und eine Schwester, mit politischen Fragen in Berührung gekommen zu sein. Sonja besuchte das Mädchengymnasium in Warschau und danach das Lehrerseminar, wo sie 1899 ihren Abschluss machte.
Wie ihr Bruder Shmuel wandte sich Sonja dem Sozialismus zu und engagierte sich im Bund (Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund). Zwischen 1905 und 1906 unterrichtete sie an einer Schule in Warschau und leitete dort eine Abteilung, später in Odessa, wo sie Mitglied im „Sozialistischen Jüdischen Arbeiterbund Russlands“ war. Nach einer Verhaftung war sie gezwungen, Russland zu verlassen und folgte ihrer Familie, die bereits 1908 aufgrund zunehmender antisemitischer Repressionen emigrierte und sich in Frankfurt/Main niederließ.
Als eine von sehr wenigen Frauen studierte Sonja Rabinowitz an der Universität Gießen Pädagogik, Nationalökonomie, Philosophie und Literatur und engagierte sich in der SPD. Ihre Dissertation legte sie 1912 „Zur Entwicklung der Arbeiterbewegung in Russland bis zur großen Revolution 1905“ vor.
Ende 1912 heiratete Sonja den Romanisten Eugen Lerch. Das Paar lebte zunächst in Berlin, dann in München, wo Lerch sich habilitierte. Über die Ehe zwischen der russischen Jüdin und dem protestantischen Preußen gibt es vielfältige Spekulationen. Victor Klemperer, der das Paar in München kennenlernte, notierte: „Ich spürte von Anfang an, dass ein wirkliches Gleich und Gleich zwischen den beiden kaum bestand.“ Die Ehe hielt Sonja Lerch in jedem Fall nicht von weiterem politischen Engagement ab. 1917 trat sie in München in die neu gegründete USPD ein. Neben Kurt Eisner und Ernst Toller war Lerch an der Agitation für einen Massenstreik beteiligt, der Ende Januar 1918 den Ersten Weltkrieg beenden sollte. Sie nutzte dabei den Nachnamen „Ranowska“ bzw. „Ranowsky“, offensichtlich um ihrem Mann, mittlerweile Privatdozent, durch ihre Agitation nicht zu schaden. Sie sprach auf zahlreichen Versammlungen und war maßgeblich am Durchbruch des Munitionsarbeiterstreiks beteiligt.
Eisner, Lerch und fünf weitere Streikführer wurden am 1. Februar verhaftet. In den Protokollen ist der Bericht eines Staatsanwalts enthalten, der über die Agitation von Sonja Lerch sagte: „Es geschah dies meist im Anschluss an die Rede Eisners, dessen Ausführungen sie in leidenschaftlichster Weise zustimmte. Sie forderte dabei gleich Eisner zum Massenaufstand auf, sprach von der Verbindung des deutschen mit dem russischen Proletariat […]. Auch ihre Reden übten auf die Anwesenden eine ausschlaggebende Wirkung im Sinne des Entschlusses der Arbeitsniederlegung und der Fortsetzung des Ausstandes aus.“
Ernst Toller schrieb in seiner Autobiographie über sein letztes Zusammentreffen mit Sonja Lerch: „Frau Sonja Lerch ist unter den Verhafteten, die Frau eines Münchener Universitätsprofessors. Der Mann hat sich am ersten Streiktag von ihr losgesagt, aber sie liebte ihn und wollte ihn nicht lassen. Gestern Abend war sie bei mir, trostlos, verstört, ich bot ihr an, die Nacht in meinem Zimmer zu bleiben, ich warnte sie, in das Haus ihres Mannes zurückzukehren, dort zuerst würde die Polizei nach ihr fahnden, sie blieb meinen Worten taub. ,Einmal will ich ihn noch sehen, einmal nur‘ wiederholte sie unaufhörlich“.
Eugen Lerch beeilte sich nach der Verhaftung seiner Frau über seinen Anwalt zu erklären, dass er bereits vor einigen Tagen die Scheidung eingereicht habe. Eisner schrieb dazu später: „Die deutsche Öffentlichkeit nahm an dieser Handlung anscheinend keinen Anstoß; man fand sie offenbar selbstverständlich. […] Außerdem war sie nur eine kleine russische Jüdin und er ein kerndeutscher Mann“.
Sonja Lerch begegnete Eisner noch zweimal kurz während der Haftzeit in München-Neudeck. Mitte März wurde sie nach Stadelheim überstellt. Dort wurde ihr der Termin für die Scheidung bekannt gegeben. „Sie schrie Tag und Nacht, ihre Schreie hallten durch Zellen und Gänge, Wärtern und Gefangenen gefror das Blut, am vierten Tag fand man sie tot, sie hatte sich erhängt.“ Es kann nicht geklärt werden, ob tatsächlich die Scheidung, wie Ernst Toller es schilderte, zu einer Verzweiflungstat von Sonja Lerch führte. Auch Eisner schrieb aus der Haft, sie habe sich das Leben genommen, um der „tiefsten Demütigung ihrer Frauenliebe“ zuvorzukommen und bezeichnete sie als „russische Märtyrerin auf deutschem Boden“. Victor Klemperer schildert ein Zusammentreffen mit Eugen Lerch nach Sonjas Tod, in dem dieser beteuerte, sie selbst habe die Scheidung gewollt. Lerch heiratete im selben Jahr erneut. Andere Quellen sehen den Zusammenbruch der Aktivistin „auf politischem Gebiet“, neuere Forschungen haben auch Zweifel am Selbstmord aufgeworfen.
In jedem Fall wurde Sonja Lerch am 29. März 1918 erhängt in einer Zelle gefunden. Sie wurde auf dem Neuen Israelitischen Friedhof München beerdigt. Ernst Toller setzte ihr ein literarisches Denkmal und machte sie zur Protagonistin Sonja Irene L. in seinem Drama „Masse Mensch“.
Quellen:
Rebekka Denz, Zwischen „russischer Steppenfurie“ und Idealtyp einer Revolutionärin: Das bewegte Leben der Sozialistin Sarah Rabinovitsh, in: Ariadne: Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte (2010), Nr. 57.
Albert Earle Gurganus, Sarah Sonja Lerch, née Rabinowitz. The Sonja Irene L. of Toller’s „Masse-Mensch“, in: German Studies Review, Jg. 28, 3. Okt. 2005.
Michael Brenner, Der lange Schatten der Revolution: Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918 bis 1923, Frankfurt/Main 2019.
Ernst Toller, Eine Jugend in Deutschland. Autobiographie, Stuttgart 2011.
Günther Gerstenberg, Der kurze Traum vom Frieden. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Umsturzes in München 1918 mit einem Exkurs über die Gießener Jahre von Sarah Sonja Rabinowitz, Lich 2018.