Das Reformjudentum blickt auf eine lange Tradition zurück. Entstanden in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zählen heute weltweit etwa 1,8 Millionen Menschen zu dieser Richtung des Judentums. Als Initiator und Begründer der Reformbewegung gilt Abraham Geiger, einer der bekanntesten Vertreter des liberalen Judentums in Deutschland war Leo Baeck.
Das liberale Judentum hat unter Wahrung der ethischen Glaubensgrundlagen die jüdische Tradition an die modernen Realitäten angepasst und betont die persönliche Wahl in Fragen der Halacha. Frauen und Männer sind unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung gleichberechtigt, d. h. sie stellen gemeinsam den Minjan, sitzen gemeinsam, Frauen können als Rabbinerinnen und Kantorinnen einer Gemeinde vorstehen, gleichgeschlechtliche Ehen werden getraut. Die weltweit erste Rabbinerin, Regina Jonas, wurde 1935 in Berlin ordiniert. Eine weitere Reform des liberalen Judentums war die Tatsache, dass nicht mehr ausschließlich Hebräisch für den Gottesdienst genutzt wurde, sondern vermehrt auch die Landessprache. Auch Gesang und Musik, im 19. Jahrhundert in Form einer Orgel, hielten in den Reformgemeinden Einzug.
Während sich heute in den USA etwa 35 Prozent der amerikanischen Jüdinnen und Juden dem Reformjudentum zugehörig fühlen, ist es in Deutschland nicht mehr die vorherrschende Strömung. Doch auch hier wächst das Reformjudentum, die Union progressiver Juden in Deutschland, der Dachverband des Reformjudentums, zählt heute 27 Mitgliedsgemeinden.
Auch in München gibt es neben der orthodoxen Israelitischen Kultusgemeinde eine liberale Gemeinde. Beth Shalom wurde 1995 von überwiegend amerikanischen Familien gegründet, die im liberalen Judentum in den USA aufwuchsen und dieses in Deutschland vermissten. Heute zählt die Gemeinde um die 600 Mitglieder, die aus insgesamt 18 Nationen stammen. Diese Vielfalt war einer der Gründe für die Auszeichnung der Gemeinde im Jahr 2021 mit dem Bayerischen Integrationspreis. Aber vor allem wurde damit die Aufklärungsarbeit über das Judentum gewürdigt, die die Gemeinde in Form von Synagogenführungen für Schulklassen und Erwachsenengruppen leistet.
Seit Ende 2006 steht der Gemeinde Dr. Tom Kučera als Rabbiner vor. Rabbiner Kučera erhielt seine Smicha (die formelle Einsetzung) am Abraham Geiger Kolleg, dem Rabbinerseminar der Reformbewegung in Potsdam. Der gebürtige Tscheche gehörte zu den drei Absolventen, die 2006 in der Dresdener Synagoge als die ersten in Deutschland seit der Schoa ordiniert wurden. Seit 2014 wird Rabbiner Kučera von Kantor Nikola David unterstützt, der mit seiner fulminanten Opernstimme durch den Gottesdienst führt.
Beth Shalom ist eine junge Gemeinde, gut ein Drittel der Mitglieder sind Kinder. Dem Nachwuchs kommt auch besondere Aufmerksamkeit zu. Einmal im Monat findet ein Familien-Gottesdienst statt, währenddem Rabbiner Kučera die Grundsätze des liberalen Judentums altersgerecht vermittelt. Bar und Bat Mitzwa Feiern werden nach einer intensiven Vorbereitung im Unterricht mit Rabbiner und Kantor in der Synagoge ausgerichtet. Die Gemeinde ist auch offen für gemischte Familien, in denen ein Elternteil nicht-jüdisch ist. Sog. Vaterjuden, also Menschen, die der Halacha nach nicht-jüdisch sind, da sie keine jüdische Mutter, wohl aber einen jüdischen Vater haben, bieten liberale Gemeinden die Möglichkeit einer Statusklärung anstelle einer Konversion, so auch Beth Shalom.
Was der Gemeinde fehlt, ist ein sichtbares Zuhause im Zentrum der Stadt, wie es die Israelitische Kultusgemeinde am Jakobsplatz hat. Die Gemeinde ist bisher in einem Bürogebäude am Stadtrand untergebracht. Neben dem Synagogenraum, in dem es an den Feiertagen mit großer Beteiligung eng wird, gibt es einen Aufenthaltsraum und kleine Unterrichtsräume. Für die wachsende Gemeinde wird es darin bald zu eng.
Dabei war die ehemals große Hauptsynagoge Münchens eine liberale Synagoge. Der freistehende Monumentalbau an der Herzog-Max-Straße zwischen Stachus und Lenbachplatz wurde 1887 eingeweiht und diente den Münchner Jüdinnen und Juden bis 1938 als Gotteshaus. Das Reformjudentum war die vorherrschende Strömung des aufgeklärten jüdischen Bürgertums. Seine Mitglieder waren gänzlich assimilierte deutsche Staatsbürger und verstanden das Judentum ausschließlich als Religionszugehörigkeit. Den aufkommenden Zionismus lehnten sie mehrheitlich ab. So musste etwa Theodor Herzl seinen ersten Zionistenkongress nach Basel verlegen und konnte ihn nicht, wie ursprünglich geplant, in München abhalten.
Die Münchner Hauptsynagoge wurde schon ein halbes Jahr vor der sog. Reichspogromnacht zerstört, unter verkehrstechnischem Vorwand. Die Kultusgemeinde musste Gebäude und Grundstück für 100.000 Reichsmark verkaufen, die Synagoge wurde im Juni 1938 abgerissen. Nach 1945 war auch das Reformjudentum auf deutschem Boden vernichtet. Die überwiegende Mehrheit der Schoa-Überlebenden, die sich in den DP-Camps neu organisierten, war vom orthodoxen Ritus Osteuropas geprägt.
Auch wenn es heute wieder eine liberale jüdische Gemeinde in München gibt, eine repräsentative Synagoge, die das Stadtbild mitprägt, wie die Ohel Jakob Synagoge, hat Beth Shalom nicht. Das soll sich aber ändern und für den geplanten Neubau einer Synagoge im Stadtteil Lehel gibt es auch bereits einen positiven Bauvorentscheid der Stadt. Der Entwurf stammt von keinem geringeren als Daniel Libeskind, der Synagoge und Gemeinderäume in Kristallform, die einen stilisierten Davidstern erkennen lässt, für Beth Shalom geplant hat.
Die Liberale jüdische Gemeinde Beth Shalom hat noch einiges zu stemmen, um dieses Projekt zu realisieren. Die neue Synagoge wird der jungen Gemeinde aber endlich den ihr zustehenden sichtbaren Platz in München zurückgeben.
Quellen:
Webseite der Gemeinde Beth Shalom
Film des Bayerischen Rundfunks über die Gemeinde Beth Shalom