Seder-Teller – Von Bayern in die jüdische Welt

„Für die Pessach-Feiern in Deutschland, an denen mehr als 150.000 jüdische Flüchtlinge und Verschleppte teilnehmen, wurden im Auftrag des Religions-Department des Joint Distribution Committee (JDC) mehr als 2.000 Seder-Teller für die verzweifelten Juden in Übersee gebrannt“, berichteten die „Jewish News“ aus Detroit. Bei dieser Meldung handelte es sich um eine Pressemitteilung des JDC, die in vielen jüdisch-amerikanischen Zeitungen abgedruckt wurde. Die Hilfsorganisation war 1914 gegründet worden und unterstützte nach 1945 die in Deutschland gestrandeten Überlebenden der Shoa finanziell und mit Sachleistungen. Dazu gehörte auch ein umfangreiches berufliches Ausbildungsprogramm, wie Schulen und Lehrwerkstätten.

Text in English: In addition to foods for Pesach, JDC religious articles for the holiday. An unusual feature of the 1948 program was the production of 2,000 Passover ceremonial plates baked for JDC's religious department and used at Seder tables attended by more than 150,000 Jewish refugees and DP's throughout Germany. These were baked in kilns by Jewish DP's at a JDC ceramics work projects in Marktredwitz.
Ausriss: Special Report on the Religious Programs. Supported by the American Jewish Joint Distribution Committee, 1. Juli 1948. (Repro: nurinst-archiv)

„Die in einer Keramikwerkstatt in Marktredwitz von jüdischen Handwerkern gebrannten Teller tragen die hoffnungsvolle Inschrift ,Dieses Jahr in Jerusalem‘, eine Adaption des Zitats aus der Pessach-Haggada ,Nächstes Jahr in Jerusalem‘“. Damit wurden der Wunsch auf ein Ende des jüdischen Exils und eine baldige Zusammenkunft am Sehnsuchtsort im Land Israel ausgedrückt. Doch zu dieser Zeit existierte noch kein jüdischer Staat, das Mandatsgebiet Palästina wurde von der britischen Regierung verwaltet, die durch ihre strikte Politik kaum eine Zuwanderung erlaubte.

Seder-Teller aus Marktredwitz. „Von der Sklaverei zur Freiheit – Dieses Jahr in Jerusalem“ lautet die hebräische Inschrift am Rand. Oben ein Hinweis auf den Auftraggeber „Zentrales Komitee in München“. Auf der Rückseite: „Hergestellt vom Rest der Geretteten in der Diaspora in Deutschland“. (Foto: Jüdisches Museum München)

Die im Fichtelgebirge gelegene Stadt Marktredwitz galt lange Zeit als eines der Zentren der deutschen Porzellan-Industrie. Weltbekannte Traditionsbetriebe wie Thomas oder Rosenthal stellten seit Ende des 19. Jahrhunderts edles Tafelservice, aber auch technische Keramik her. Dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit hier auch Teller und Tassen von jüdischen Handwerkern für den „Rest der Geretteten“, wie sich die entwurzelten und verschleppten Juden in Deutschland nannten, gebrannt wurden, ist indessen kaum bekannt.

Überall in Bayern waren ab Sommer 1945 auf Anordnung von US-Präsident Truman „Assembly Centers“ entstanden, wie sie etwa in Föhrenwald, Pocking, Bamberg, München, Hof oder Landsberg nachweisbar sind – in denen teilweise Tausende von jüdischen Bewohnern lebten. In Marktredwitz bestand von 1945 bis zum Anfang der 1950er Jahre eine bis zu 240 Mitglieder umfassende jüdische Gemeinschaft. Für einige Jahre kam es in diesen „Wartesälen“ zu einer Wiedergeburt des nahezu zerstörten osteuropäischen Schtetl-Lebens mit sozialen und politischen Organisationen, Schulen, Lehrwerkstätten, Zeitungen, Sportvereinen und natürlich Synagogen.

Nicht nur für die strenggläubigen Juden war es ein elementares Bedürfnis, auch im „Land der Täter“ ihre Religion auszuüben und die traditionellen Feiertage zu begehen, die vor der Entrechtung durch die nationalsozialistische Barbarei ihr Leben prägten. Einer der wichtigsten Tage war dabei das Freiheitsfest Pessach, das man geschickt mit der Idee einer jüdischen Nation verknüpfte. Ein spezieller Seder-Teller, auf dem symbolische Speisen drapiert werden, ist dafür unabdingbar: ein Bitterkraut (Marot) als Zeichen für die Knechtschaft in Ägypten, ein Stück Lammkeule (Seora), das an die Opferung eines Lamms erinnert, eine Paste aus Apfel, Feigen und Nussstückchen (Charosset) als Symbol für die Ziegel, die die Israeliten in der Knechtschaft herstellen mussten, ein zweites Bitterkraut (Chaseret), eine Erdfrucht (Karpas), die für die harte Arbeit in der Sklaverei steht und ein Ei (Bejtza), welches an die Fruchtbarkeit, aber auch an die Trauer über den zerstörten Tempel in Jerusalem erinnern soll.

Für das Pessach-Fest 1948 produzierte die Werkstatt in Marktredwitz Tausende solcher rituellen Platten, versehen mit einer hebräischen Inschrift und einer Bebilderung: „Von der Sklaverei“ (jüdische Sklaven, die ägyptische Pyramiden bauen) „zur Freiheit“ (eine friedliche Stadtansicht mit Palmen in Palästina).

Ein Wunsch, der am 14. Mai 1948 mit der Proklamation des Staates Israel durch den ersten Ministerpräsidenten David Ben Gurion in Erfüllung ging. Außerdem liberalisierten die USA, Kanada und Australien zum Ende der Dekade ihre Einwanderungsvorschriften, sodass die meisten Juden die „Wartesäle“ verlassen konnten – im Gepäck befand sich oft ein in Marktredwitz gebrannter Seder-Teller.

Quellen:

Zeitungsartikel aus der amerikanisch-jüdischen Presse, Schriftwechsel und Berichte. American Jewish Joint Distribution Committee Archives, New York (45/54 Germany).