„Boxen bedeutet Selbstverteidigung“

Am 27. Januar 1947 wurden im Münchner Circus Krone Bau die dreitägigen Wettkämpfe um die jüdische Boxmeisterschaft eröffnet

„Das Endspiel um die Jüdische Fußballmeisterschaft haben wir verloren“, erinnerte sich Jack (Izak) Nierob etwas wehmütig an das denkwürdige Finale im November 1947 Jahren zwischen Hasmonea Zeilsheim und Ichud Landsberg im Münchner Grünwalder Stadion, „doch bei der Boxmeisterschaft im Circus Krone belegte unsere Staffel den ersten Platz!“ Izak Nierob (1925–2020) wurde im polnischen Plock geboren. Nach seiner Befreiung aus dem KZ Buchenwald verschlug es ihn nach Frankfurt ins Displaced Persons (DP) Camp Zeilsheim. Dort spielte Izak Fußball und boxte im jüdischen Sportklub Hasmonea. Im April 1949 emigrierte er in die USA.

„Juden lernt Boxen“, appellierte der Sportjournalist Ben Jakow in der Jidisze Sport Cajtung leidenschaftlich an die Shoa-Überlebenden in den DP Camps und fügte sarkastisch hinzu: „Es tut ein bisschen weh, aber Juden sind an den Schmerz gewöhnt.“ Getreu dem Ruf „Jüdischer Sportler! Wir wollen die Tradition des jüdischen Heldentums fortführen“, organisierten sich Leichtathleten, Turner, Fußballer und natürlich Boxer. Durch die Körperkultur sollte die Jugend „im Geiste von Stärke, Heldenmut, Gesundheit und allgemeiner physischen Vorbereitung“ erzogen werden. Lieblingssport der Massen war der Fußball, doch die zionistischen Parteifunktionäre favorisierten das Boxen, weil bei diesem Sport ihrer Ansicht nach „Schnelligkeit, Ausdauer, Kaltblütigkeit, Kampfeslust, Siegeswillen und das Schönste: der Heldenmut“ entwickelt wird. „Nach dem großen Unglück unseres Volkes“, so ihre Forderung, „muss Boxen bei uns zu einem Massensport werden, weil es die Bedeutung von Selbstverteidigung hat.“

Im DP-Lager Landsberg am Lech entstand bereits im Oktober 1945 der Sportverein Ichud (Einheit) mit mehreren Sparten, darunter Leichtathletik, Tischtennis, Fußball und Boxen. Durch Wettkampf und Spiel wollte man sich körperlich ertüchtigen und neues Selbstvertrauen gewinnen. Der Sport diente aber auch dazu, den Alltag zu strukturieren und etwas Abwechslung und Freude ins triste Lagerleben zu bringen.

Boxerstaffel von Hasmonea Zeilsheim; Izak Nierob, 3. v. r. (Repro: www.nurinst.org)

Ein erstes jüdisches Boxturnier nach dem Zweiten Weltkrieg fand vom 5. bis 6. Juli 1946 im Frankfurter DP Camp Zeilsheim statt. Souveräner Sieger wurde die Staffel aus Landsberg, die nach Abschluss der Wettkämpfe den silbernen Pokal erhielt. Waren bei diesem Turnier nur Vertreter von vier Camps angetreten, so kämpften bei der Sportveranstaltung im Lager Gabersee (Wasserburg) vom 30. November bis 1. Dezember 1946 bereits Boxer aus sechs Camps um Sieg und Platz. „Der erste Tag begann mit dem imponierenden Einmarsch der Teilnehmer. Das Herz hüpfte vor Freunde, als die Zuschauer die Parade der Sportler erblickten“, textete ein Journalist der jiddischen Zeitung Ibergang, der diesen Auftritt als eine „körperliche Wiedergeburt der jüdischen Jugend“ bejubelte. Die 45 Kämpfer traten in sechs Klassen an: Fliegen-, Feder-, Papier,- Leicht-, Halbmittel- und Halbschwergewicht. Diesmal belegten die Boxer aus dem Lager Pocking den ersten Platz.

Anzeige aus der jiddischsprachigen DP-Presse. (Repro: www.nurinst.org)

Rund zwei Monate später fand ein weiteres vielbeachtetes sportliches Großereignis statt, nun in der ehemaligen Hauptstadt der NS-Bewegung: Die 1. jüdische Boxmeisterschaft in der US-Zone Deutschlands. Schon am Vorabend, dem 26. Januar 1947 trafen die ersten Sportler mit ihren Betreuern und Funktionären in München ein. Insgesamt hatten über 120 Personen, darunter 68 Boxer, die beschwerliche Reise aus allen Ecken der US-Zone angetreten. Staffeln aus den DP-Lagern Föhrenwald, Landsberg, Zeilsheim, Pocking, Weilheim, Gabersee, Bad Reichenhall, München, Bamberg, Deggendorf, Dorfen, Backnang und Wasseralfingen wollten um Ruhm und Ehre kämpfen. „Montag, dem 27. Januar 1947, ab vier Uhr nachmittags strömten die sportbegeisterten Massen in Richtung Circus Krone“, berichtete die jiddische Presse. „Im Publikum sah man aber nicht nur Juden, auch nichtjüdische Boxfans, zumeist Amerikaner, waren darunter.“ Dazu viele geladene Ehrengäste: Abgeordnete des Zentralkomitees der befreiten Juden sowie Repräsentanten der US-Militärregierung und verschiedener Hilfsorganisationen.

„Voller Spannung wartete das Publikum auf interessante und anspruchsvolle Kämpfe“, schrieb die Jidisze Sport Cajtung – und der Journalist und die Zuschauer wurden nicht enttäuscht! Pünktlich um 5 Uhr wurde der Wettkampf feierlich eröffnet. Starke Scheinwerfer leuchteten die Halle aus; unter Trommelwirbel marschierten die Aktiven und Funktionäre mit blauweißen Fahnen und dem US-Sternenbanner in die Arena ein. Ein Orchester spielte die Hatikwa und die amerikanische Nationalhymne. Nachdem Vertreter der jüdischen Selbstverwaltung und der Militärregierung ihr Grußwort gehalten hatten, ergriff Philipp Auerbach, der Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte das Wort. Er erinnerte an Hitlers Auftritt im Circus Krone vor zwölf Jahren: „Und jetzt finden unsere Wettkämpfe hier statt“, sagte er unter tosendem Beifall der Zuschauer, „es ist ihm nicht gelungen, uns vollständig zu vernichten und unsere Jugend wird beweisen, dass es an der Zeit ist, unsere Ehre zu verteidigen – nicht nur im Ring oder auf dem Sportplatz!“

Als erste Kämpfer betraten zwei zehnjährige Jungen aus dem DP Camp Landsberg den Ring und führten einen ansprechenden Schaukampf auf, den der Ringrichter mit einem salomonischen Urteil als unentschieden wertete. Wurde der Nachwuchs noch milde belächelt, so offenbarte sich am nächsten Tag schon bei den Vorkämpfen, dass viele Boxer bereits vor dem Krieg ihren Sport auch im professionellen Bereich ausgeübt hatten. Am letzten Tag des Turniers standen die besten 16 Boxer für die acht Endkämpfe fest. Die Männer aus dem Camp Zeilsheim setzten sich unangefochten durch; Hasmonea belegte mit vier Meistern den ersten Platz, gefolgt von Landsberg, Deggendorf und Föhrenwald, die sich mit jeweils einem Meister zufriedengeben mussten.

Das dreitätige Turnier in München war ein voller Erfolg: für Zuschauer und Aktive. Denn dem Stereotyp vom angeblich verkümmerten, schwachen Ghettojuden wurde eine deutliche Absage erteilt, das Idealbild des „neuen“, physisch wehrhaften und tatkräftigen Juden hatte ihn abgelöst. Wie es schon Max Nordau auf dem zweiten zionistischen Kongress gefordert hatte: „Wir müssen trachten, wieder ein Muskel-Judentum zu schaffen. Wieder! Denn die Geschichte bezeugt, dass es einst ein solches gegeben hat.“

Nicht nur nach Meinung der zionistisch ausgerichteten Journalisten galt die körperliche Betätigung und insbesondere das Boxen als ein probates Mittel zur physischen und psychischen Wiederherstellung der Menschen. Es wurde aber auch als Vorbereitung für den sich abzeichnenden militärischen Kampf um Palästina angesehen. Wenngleich vom 16. bis zum 18. April 1948 erneut Kämpfe zur nunmehr 2. jüdischen Boxmeisterschaft in München stattfanden, wurde durch die Proklamation des Staates Israel und die damit verbundene Abwanderung der Juden aus Deutschland das Ende einer jüdischen Sportkultur eingeleitet, wie sie hier nicht wieder entstehen sollte. Eine dritte Meisterschaft jüdischer Boxer fand in Deutschland nicht mehr statt.

Quellen:

Jidisze Sport Cajtung (München).

Ibergang – Organ fun der Federacje fun Jidn fun Pojln (München).

Jim G. Tobias, Wir Sportler müssen beweisen, dass wir die Avantgarde unseres Volkes sind. Jüdischer Sport in den DP-Camps: gelebte zionistische Überzeugung, in: Markwart Herzog/Peter Fassl (Hg.), Sportler jüdische Herkunft in Süddeutschland, Stuttgart 2021.