„Der Himmel klart auf, die Sonne beginnt wärmer zu werden. Nur noch ein paar Wochen und die Plätze werden sich mit ausgehungerten Sportsfreunden füllen, die sich nach dem Spiel mit dem Ball, nach Toren und nach etwas Herzkitzeln sehnen“, textete die Jidisze Sport Cajtung gefühlvoll, um den Lesern die freudige Nachricht mitzuteilen: „Bald beginnt die Fußballsaison!“ Diese Meldung stand nicht in einer Zeitung in Tel Aviv, Haifa oder Jerusalem, sondern in einem im besetzten Deutschland verlegten jüdischen Sportmagazin. Ausgerechnet im Land der Täter spielten, nur kurze Zeit nach der Shoa, jüdische Überlebende in über 80 Fußballvereinen und mehreren Ligen um Punkte und Tore.
Begonnen hatte alles an Pessach 1946 in Landsberg am Lech. In der Stadt, in der Adolf Hitler nach dem gescheiterten Putsch von 1923 für weniger als ein Jahr in Festungshaft einsaß und den ersten Band von „Mein Kampf“ verfasst hatte. Ab Herbst 1945 wurde Landsberg zu einem temporären Zufluchtsort von bis zu 5.000 Überlebenden der Shoa – die Saarburgkaserne verwandelte sich in eine selbstverwaltete jüdische Enklave mit eigener Zeitung, Schule, Theater und einem Sportverein.
In eiligst errichteten Assembly-Centers, sogenannten Displaced Persons (DP) Camps, warteten bis zu 200.000 Menschen auf eine Weiterreise nach Palästina oder Übersee. Doch der Staat Israel existierte noch nicht und die klassischen Emigrationsländer ließen nur wenig Einwanderung zu – erst mit der Gründung des jüdischen Staates 1948 und der Liberalisierung der Zuwanderungsbestimmungen in den USA, Kanada und Australien konnten die Überlebenden der Shoa das Land der Täter verlassen.
In den Jahren des Wartens entstand bald der Wunsch nach Zerstreuung, die sportliche Betätigung stand dabei ganz oben auf der Liste. Mit Abstand am beliebtesten war der Fußball. Beim Spiel mit dem Ball konnten die Menschen der Lethargie des Lagerlebens entkommen und einen Moment ihre traumatischen Erinnerungen an die mörderische Vergangenheit vergessen. Und immer mehr ehemalige Aktive wollten ihr geliebtes Spiel wieder ausüben. So ist es nicht verwunderlich, dass ab Herbst 1945 überall Mannschaften gegründet und erste Freundschaftsspiele durchgeführt wurden. Schon bald entstand jedoch auch der Wunsch nach einem geregelten Ligabetrieb.
Zum Pessachfest 1946 lud der Landsberger „Turn un Sport Farejn Ichud“ die zwölf besten Mannschaften aus den DP-Camps zum „Grojser Sport-Jom-Tow“ ein – die Auftaktveranstaltung zur Gründung einer jüdischen Fußball-Liga. Am 18. April wurde das Turnier vor 3.000 begeisterten Zuschauern und den Teams von Hakoach Stuttgart, Makabi Leipheim, Kochaw Eschwege, Makabi Föhrenwald, Ichud Greifenberg, Makabi Freimann, Reprezentanc Feldafing, Bar Kochba Regensburg, Hapoel Pocking, Hakoach Bamberg, Hapoel Türkheim sowie den Gastgebern Ichud Landsberg feierlich eröffnet. „Euch Sportlern wünsche ich, dass ihr eure Kräfte nächstes Jahr, dann zum zweiten Mal, in Erez Israel messen möget“, sagte Dr. Glassgold, der Vertreter der UN-Flüchtlingshilfe, der auch den Pokal stiftete. Er bekräftigte mit seinem Worten den Wunsch vieler Sportler nach einem eigenen jüdischen Staat in Palästina.
Anschließend marschierten die Spieler mit weißblauer Davidstern-Fahne sowie der US-Flagge an der Ehrentribüne vorbei zur städtischen Sportanlage, wo die ersten sechs Partien ausgetragen wurden. Ichud Landsberg gewann sein Spiel souverän mit 4:0 gegen die Auswahl des DP-Camps Pocking und war mit diesem Sieg, wie auch die Teams aus Leipheim, Föhrenwald, Greifenberg, Feldafing und Regensburg, eine Runde weiter. Nach Austragung dieser Partien waren nur noch Landsberg und Feldafing ungeschlagen und damit für das Endspiel qualifiziert.
Mit Spannung erwarteten am 21. April 1946 rund 5.000 Zuschauer das Finale. Doch sie wurden enttäuscht: beim Stand von 1:1 kam es in der zweiten Halbzeit „wegen unsportlichen Verhaltens der Feldafinger gegenüber dem Schiedsrichter“ zum Spielabbruch. Nach langen Diskussionen einigte man sich, die letzten 22 Minuten am nächsten Tag zu absolvieren. Landsberg hatte das Spiel nun im Griff, doch ein Tor wollte nicht fallen. Doch auch diesmal wurde die Begegnung wegen Unfähigkeit des Schiedsrichters nicht zu Ende gespielt. Das Turnier hatte keinen Sieger.
Trotz des unrühmlichen Ende des Wettbewerbs einigten sich die jüdischen Vereine auf die Gründung einer 1. Fußball-Liga in der US-Zone – mit zunächst neun Teams. Drei Mannschaften hatten sich bei dem Turnier als zu schlecht für das Oberhaus erwiesen, sie spielten fortan mit anderen Klubs in den Regionalligen. Erster jüdischer Fußballmeister wurde 1946 unangefochten Ichud Landsberg. Der Verein verfügte über 800 Mitglieder und vielen Aktiven, die schon vor dem Krieg zumindest semiprofessionell gekickt hatten.
Kurz vor Beginn der zweiten Saison wurde die 1. Fußball-Liga 1947 auf 22 Mannschaften erweitert – aufgeteilt in eine Süd- und eine Nordgruppe. Die jeweiligen Sieger spielten um die Meisterschaft, die Zweiten um Platz drei. Mit einem deutlichen Vorsprung von sechs Punkten verwiesen die Landsberger die Elf aus dem Lager Feldafing auf den zweiten Platz. Im Norden errang das Team von Hasmonea Zeilsheim, vor dem CSC Ulm, die Meisterschaft. Beide Spitzenteams dominierten ihre Ligen und hatten frühzeitig die Tabellenführung inne.
Obwohl der Wetterbericht für den Tag des Endspiels um die jüdische Meisterschaft einen bewölkten Himmel und vereinzelt Schneefall vorausgesagt hatte, blieb es am 29. November 1947 in München trocken und freundlich. Gut gelaunt und warm eingepackt strömten die Fußballfans schon am Vormittag ins Grünwalder Stadion. „Zu Beginn des Hauptspieles hatten sich 5.000 Menschen eingefunden“, berichtete die Jidisze Sport Cajtung. Dies sei „kein Wunder“, haben doch viele „Fusbal-Simpatiker“ seit Monaten ungeduldig auf diesen Tag gewartet.
Zunächst pfiff der Schiedsrichter das Spiel um den dritten Platz an. Die Ulmer Mannschaft übernahm sofort die Initiative, setzte das Team von Feldafing mit schnellem Kurzpass-Spiel unter Druck und kam schon bald zu zwei guten Torchancen. Dennoch gelang Feldafing in der 25. Minute der erste Treffer durch Handelfmeter – zehn Minuten später das 2:0. Mit diesem Ergebnis gingen die Mannschaften in die Kabinen. Nur wenige Minuten nach Wiederanpfiff fiel überraschend der Anschlusstreffer. Die Ulmer drängten auf den Ausgleich und arbeiteten sich schöne Möglichkeiten heraus; allein es fehlte ihnen ein Vollstrecker. Mit viel Glück konnten die Feldafinger den Vorsprung über die Zeit retten und als Sieger vom Platz gehen.
Nun stand der Höhepunkt der Fußballsaison bevor: Das Endspiel um die Meisterschaft. Die Begeisterung der 5.000 Zuschauer war riesig, als der Titelverteidiger Ichud Landsberg und sein Herausforderer, das Team von Hasmonea Frankfurt-Zeilsheim, einliefen. Beide Mannschaften begannen ohne taktische Zwänge aufzuspielen und lieferten sich einen herzerfrischenden Angriffsfußball. Aufgrund seiner kompakten Abwehr und der technisch versierteren Spieler bestimmte Landsberg vor allem in der zweiten Halbzeit das Geschehen auf dem Rasen. Das 1:0 fiel unmittelbar nach der Pause, das vorentscheidende 2:0 nur wenige Minuten später und kurz vor Schluss mussten die Zeilsheimer auch das 3:0 hinnehmen. Das Ausnahmeteam von Landsberg hatte sich wieder einmal durchgesetzt.
„Nachdem Ichud schon 1946 den Titel gewonnen hat, ist die Mannschaft erneut Fußballmeister in der US-Zone geworden“, freute sich die in Landsberg verlegte Jidisze Cajtung. „Wiederum zeigte Ichud, dass sie nicht zu besiegen sind – in den letzten zwei Jahren haben sie nur zwei Spiele verloren.“ Auch die Jidisze Sport Cajtung feierte das Team: „Ichud ist weiterhin die beste Mannschaft in unserer Zone“, so die Schlagzeile auf dem Titel und der Sportreporter jubelte: „Es lebe der jüdische Sport in unserem eigenen Staat.“ An diesem 29. November 1947 hatte nämlich die UN-Vollversammlung in einer mit Spannung erwarteten Sitzung die Teilung des britischen Mandatsgebietes Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat beschlossen. Ein lang ersehnter Traum war zum Greifen nahe. Nicht nur in München tanzten die Juden auf den Straßen und einige freuten sich darauf, bald in den Vereinen von Haifa, Tel Aviv oder Jerusalem zu kicken. Eine dritte Meisterschaft jüdischer Fußballer fand in Deutschland nicht mehr statt.
Quellen:
Jidisze Sport Cajtung.
Landsberger Lager Cajtung.