Das „Haus der Gelegenheitsposten“

Die Textilhandlung Jacob Goldberger in Nürnberg

„Das Geschäft wurde im Jahr 1873 von meinem Großvater gegründet. Nach 18 Jahren ist er in ein größeres Lokal gezogen und nach weiteren 18 Jahren hat er das Haus am Josephsplatz gekauft. Nach weiteren 18 Jahren ist es umgebaut und vergrößert worden und nach weiteren elf Jahren ist es ‚arisiert’ worden“, erzählte der Enkel Jakob Goldberger. „,Haus der Gelegenheitsposten‘ stand groß an der Fassade, aber der eigentliche Name war ,Die Blaue Glocke‘. Wir hatten 15 Angestellte im Verkauf, sowie Lageristen und Bürokräfte, insgesamt waren 25–30 Personen beschäftigt. Es gab dort Stoffe aller Art, Herren-, Damenbekleidung, Vorhangstoffe für Bühnenausstattungen und für Talare. Es war ein sehr großer Laden mit Stammkunden seit Jahren und Jahrzehnten, vor allem unter der nicht-jüdischen Bevölkerung. Am Schabbat war das Geschäft ja geschlossen und wenn es dann Samstagabend aufgemacht wurde, standen die Leute draußen Schlange, um reinzukommen, zum großen Ärger der übrigen Geschäftsleute, bei denen das nicht so war.“

Im Stadtzentrum Nürnbergs, am Josephsplatz 20, hatte die Familie Goldberger ihre Textilhandlung. (Repro: nurinst-archiv)

Das „Haus der Gelegenheitsposten“ am Josephsplatz war nicht das einzige Nürnberger Textilfachgeschäft in jüdischem Besitz. Es gab zahlreiche Läden für Schnitt- und Modewaren, Tuche, Trikotagen, Textilwaren sowie Herren- und Damenkonfektion in der Frankenmetropole. Nürnberg hatte sich im 19. Jahrhundert zu einem Wirtschaftszentrum in Bayern entwickelt. Als 1850 das Ansiedlungsverbot für Juden in der Stadt aufgehoben wurde, ließen sich viele jüdische Kaufleute aus den ländlichen Gebieten Mittel- und Oberfrankens in Nürnberg nieder. Darunter auch Hausierer, die mit Kleidung, Kurzwaren oder anderen Textilien handelten, sowie Lumpensammler, die alte Stoffe und gebrauchte Kleidung an- und verkauften. Ihre Erfahrung in diesen Gewerbezweigen nutzten die ehemals fliegenden Händler und eröffneten nun Läden in der Stadt. Aus der Vielfalt der neugegründeten Schnitt- und Kurzwarenhandlungen sowie Stoff- und Bekleidungsgeschäfte entwickelten sich auch große Textil- und Kaufhäuser.

Noch in den 1930er Jahren befand sich die Hälfte aller deutscher Textilfirmen in jüdischem Besitz. Die größten Warenhauskonzerne – Karstadt, Kaufhof, Tietz und Schocken – hatten jüdische Eigentümer. Das bekannteste Kaufhaus in Nürnberg war sicher der „Schocken“, ein 1926 in einem von Arbeitern bewohnten Stadtteil eröffnetes modernes Einkaufszentrum des Unternehmers Salman Schocken, das günstige Angebote für alle Bevölkerungsschichten offerierte. Nach der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten wurden die Juden innerhalb weniger Jahre aus dem Wirtschaftsleben verdrängt, mussten ihr Eigentum weit unter Preis verkaufen beziehungsweise ihre Geschäfte wurden sukzessive zwangsweise an deutsche nichtjüdische Eigentümer übertragen.

„Ich war bei dieser ,Arisierung‘ dabei, das war eine sehr traurige Angelegenheit“, erinnerte sich der damals 21-jährige Jakob Goldberger. „Das Geschäft musste gegen ein paar lumpige Groschen verkauft werden. Verkauft werden kann man nicht sagen, sondern enteignet, ebenso das Haus, das vierstöckige Haus mit einem Vorder- und einem Hinterhaus. Es kamen zwei Gestapobeamte, einer hielt einen Vortrag, dass jetzt neue Zeiten angebrochen wären, aber es werde uns gar nichts geschehen. Dann kam ein älterer Mann daher und sagte: „Ich bin jetzt der Inhaber, geben Sie mir die Schlüssel, geben Sie mir die Stoffe, die noch da sind, geben Sie mir alles, was da ist, das gehört jetzt mir.“ David und Amalie Goldberger mussten zustimmen und die Übergabe unterschreiben. „Das war eine sehr, sehr traurige Angelegenheit.“

Nach dem wirtschaftlichen Tod, folgte die physische Vernichtung. Am 24. März 1942 wurden David und Amalie Goldberger zusammen mit rund tausend fränkischen Juden – davon über 400 aus Nürnberg – nach Izbica in Polen deportiert. Dort verlieren sich ihre Spuren. In der kleinen Stadt in der Nähe von Lublin bestand zunächst ein Ghetto für die ansässige jüdische Bevölkerung, das jedoch bald geräumt wurde und anschließend einige Monate lang als Transitghetto für Tausende von Juden aus dem Deutschen Reich, Luxemburg, dem Protektorat Böhmen und Mähren und der Slowakischen Republik diente. Wer nicht bereits an Unterernährung, Krankheit und Gewalt gestorben war, wurde schließlich in Sobibor, Treblinka oder Belzec vergast.

Sohn Jakob hatte sich 1939 noch rechtzeitig über die Schweiz und Italien nach Palästina retten können. Seine Eltern sah er zum letzten Mal, als sie ihn zum Zug begleiteten. Bis kurz vor ihrer Deportation war er mit ihnen in Briefkontakt gestanden und hatte vergeblich versucht, eine Einreisegenehmigung ins britische Mandatsgebiet für sie zu erhalten. David und Amalie Goldberger wurden am 8. Mai 1945 für tot erklärt. Jakob Goldberger lebte von 1939 bis zu seinem Tod im Jahr 2002 in Jerusalem.

Quellen:

Gerhard Jochem, Mitten in Nürnberg. Jüdische Firmen, Freiberufler und Institutionen am Vorabend des Nationalsozialismus, Nürnberg 1998.

Roberta S. Kremer (Hg.), Zerrissene Fäden. Die Zerstörung der jüdischen Modeindustrie in Deutschland und Österreich, Göttingen 2013.

Jim G. Tobias, „… und wir waren Deutsche“. Jüdische Emigranten erinnern sich. Ein Lesebuch, Nürnberg 2009.

https://nuernberger-videoarchiv.de/Jakob-Goldberger.html