Julius Spanier – „Wer ihm begegnete, fand einen Vater“

Julius Spanier wurde am 18. April 1880 in München geboren, als zweiter von vier Söhnen des Ehepaars Joseph und Gretchen Spanier. Er besuchte die Volksschule und legte 1899 das Abitur am örtlichen Luitpold-Gymnasium ab. Danach schrieb er sich zum Studium der Medizin in München ein, das er 1904 mit einer Promotion über „Laparotomie bei diffuser eitriger Peritonitis“ beendete. Im Anschluss ging Spanier für die kinderärztliche Ausbildung nach Berlin. 1906 ließ er sich in München als Kinderarzt nieder. Ein Jahr später heiratete er Zipora Knoller, das Paar blieb kinderlos.

Spanier war Mitbegründung der Säuglingsfürsorge in München und ab 1914 als Fürsorgearzt für Säuglinge und Kleinkinder tätig. Im Ersten Weltkrieg diente er als Stabsarzt. Ab 1919 war er im Nebenamt städtischer Schularzt, von 1926 bis 1928 außerdem Vorsitzender der „Münchner Gesellschaft für Kinderheilkunde“.
Nach 1933 verlor Julius Spanier zunächst seine Stellung als Schularzt und Säuglingsfürsorgearzt des Münchner Bezirksverbandes. Im Juli 1938 wurde jüdischen Ärzten die Approbation entzogen. Spanier gehörte zu einem der 14 Ärzte, die als „Krankenbehandler“ weiter tätig sein konnten. Im Herbst 1939 übernahm Spanier die Leitung des Israelitischen Krankenheims. Zusätzlich wurde er als Lagerarzt für das Sammellager Berg am Laim bestimmt. Für Spanier, der zu dieser Zeit schon über 60 Jahre alt war, auch eine körperlich große Belastung, musste er doch dreimal wöchentlich spät abends ins Lager gelangen. Das Trambahnfahren war ihm als Jude eigentlich verboten und er ging dabei jedes Mal ein großes Risiko ein.

Dr. Spanier wurde am 4. Juni 1942 zusammen mit seiner Frau Zipora, 50 Patienten und 22 Krankenschwestern des Israelitischen Krankenheims nach Theresienstadt deportiert. Nur das Ehepaar und zwei Schwestern überlebten. In Theresienstadt lehnte Spanier das Angebot einer bevorzugten Stellung im Ältestenrat mit Erleichterungen im Alltag ab und zog es vor, weiter Patienten zu behandeln und ihnen Mut und Trost zu spenden, was dazu führte, dass er „Sonnenschein“ genannt wurde. Im Theresienstadt dokumentierte der Mediziner die durch Mangelerscheinungen verursachte Erkrankung Pellagra und hielt Vorträge dazu für seine Kollegen vor Ort. In den Wochen nach der Befreiung brach in Theresienstadt Fleckfieber aus und auch Spanier erkrankte. Die Schriftstellerin Gerty Spies erinnerte sich später an einen Besuch bei ihm: „Von Schmerzen gequält, von Fieber geschwächt trotz der Ungewissheit des Ausgangs gab er sich heiter, gütig und väterlich, wie ich ihn anders nicht kannte.“
Spanier konnte erst im August 1945 nach München zurückkehren. Stark geschwächt und herzkrank, als einer von nur 188 der 1.555 Münchner Juden, die drei Jahre zuvor nach Theresienstadt deportiert worden waren.

Der unter dem Pseudonym Friedrich Deich schreibende Arzt und Journalist Friedrich Weeren erinnerte sich, Spanier gefragt zu haben, wie es in Theresienstadt war. Spanier habe geantwortet: „Drei Dinge waren schön in Theresienstadt. Es gab dort erstens kein Telefon, zweitens kein Finanzamt, und drittens brauchte man als Arzt für seine Bemühungen keine Rechnungen schreiben.“ Im Anschluss habe er noch erzählt, dass er einmal für eine Behandlung als Geschenk zwei Kartoffeln erhielt, „ein wunderbares Geschenk, das uns sehr glücklich gemacht hat“.

Dr. Julius Spanier in der Säuglingsklinik, Lachnerstr. Foto: Archiv der Berufsfachschule für Kinderkrankenpflege (Klinikum Dritter Orden)

Nach Kriegsende war Spanier am Wiederaufbau der medizinischen Versorgung in München beteiligt und übernahm die Leitung der Säuglingsklinik an der Lachnerstraße, eine Stelle, die er bis 1955 hielt. Er engagierte sich außerdem in der neugegründeten jüdischen Gemeinde und war bis 1951 Präsident der IKG München. Die Wahl hatte nur kurz nach Spaniers Rückkehr stattgefunden, im Altersheim in der Kaulbachstraße, das nicht zerstört worden war. „Als der offizielle Teil vorüber war, ging der Gewählte im Garten spazieren“, schrieb Gerty Spies. „Da sah er mich mit meiner wiedergefundenen kleinen Familie auf einer Bank sitzen, kam auf uns zu und legte, ohne sich lange mit Begrüßungsworten aufzuhalten, seine Hand auf den Kopf des Babys, um die Fontanellen zu tasten. Dann zog er ebenfalls wortlos einen Block heraus und schrieb ein Rezept auf. Von Dank wollte er nichts hören.“ Von 1946 bis 1951 saß Dr. Spanier als Vertreter der jüdischen Gemeinde im Bayerischen Senat. Im Mai 1947 konnte die Gemeinde die Synagoge in der Reichenbachstraße einweihen, Spanier hielt die Ansprache.

Der Mediziner bemühte sich auch um die Aussöhnung. Bekannt wurde sein Ausspruch bei der Beisetzung der Urnen von ermordeten Juden in München, während derer es zu Rufen nach Vergeltung kam. Spanier entgegnete mit einem Zitat aus Sophokles‘ Antigone: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben sind wir hier!“ Seit 1948 engagierte er sich als Mitglied des Vorstandes auch in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Für seine Versöhnungsbemühungen wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Gedenktafel an der Kinderklinik. Foto: Archiv der Berufsfachschule für Kinderkrankenpflege (Klinikum Dritter Orden)

„Die Zeiten wandelten sich, sie wandelten nicht den Mann“, resümierte Gerty Spies. „Weder konnten hohe Ehren ihn entfremden, noch konnten Enttäuschungen ihn erbittern. Für die Gefährten jener großen Tage des gemeinsamen Leids blieb er der hilfsbereite, verstehende Freund. Wer sein Haus betrat, kam in ein Haus des Friedens. Wer ihm begegnete, fand einen Vater.“
Julius Spanier starb 1959 in München. Sein Grab liegt auf dem Neuen Israelitischen Friedhof.

Quellen:

Lisa Martina Caspari/Sebastian Peters/Julia Schneidawind, Wissen Sie, wer Julius Spanier war? Eine Spurensuche des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilians-Universität, Ausstellungsbroschüre des Jüdischen Museum München, München 2015.

Helga Pfoertner, Mit der Geschichte leben. Bd. 3, München 2005.

Gerty Spies, Erinnerungen an Dr. Julius Spanier, in: Hans Lamm (Hrsg.), Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München, München 1982.

Friedrich Deich, Jüdische Mediziner in München, in: Hans Lamm (Hrsg.), Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München, München 1982.

Julius Spanier, Ein Beitrag zur Laparotomie bei diffuser eitriger Peritonitis, Dissertation Universität München 1904.